"Die Bergbaukultur wird bleiben"

Moderation: Gabi Wuttke · 30.01.2007
Trotz des beschlossenen Stopps der Steinkohleförderung in Deutschland zum Jahr 2018 hin wird die Bergbaukultur im Ruhrgebiet weiter präsent sein. Davon ist Klaus Tenfelde, Leiter des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhruni Bochum, überzeugt. Die regionale Identität der Menschen sei von der Kohle geprägt, sagte Tenfelde im Deutschlandradio Kultur. Auf den Wegfall der Arbeitsplätze sei das Ruhrgebiet durch den seit den 50er Jahren stattfindenden Strukturwandel gut vorbereitet.
Wuttke: In elf Jahren, 2018, soll Schluss sein mit dem deutschen Steinkohlebergbau. Darauf hat sich die Große Koalition geeinigt, mit der Option, die Angelegenheit in fünf Jahren noch mal zu prüfen, aber nur, sagt die Union, damit die SPD hier und heute das Gesicht nicht verliert. Über die lange Geschichte des Reviers und was vom Ruhrpott bleiben wird sprechen wir jetzt mit Professor Klaus Tenfelde. Er leitet das Institut für Soziale Bewegung an der Ruhruniversität und ist Vorsitzender der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets, die sich seit acht Jahren mit Geschichte und Gegenwart des Reviers beschäftigt. Zu den privaten Stiftern gehören die RAG ebenso wie die zuständige Gewerkschaft. Guten Morgen, Herr Professor Tenfelde!

Tenfelde: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Angesichts des Milliardentropfs, an dem die deutsche Steinkohle hängt, eine berechtigte Entscheidung, die die Große Koalition in dieser Nacht getroffen hat?

Tenfelde: Im Prinzip ja, vor allem dahingehend, dass es eine modifizierte Entscheidung ist, dass man nicht von heute auf morgen zumacht. Das würde das Revier nicht vertragen, und das ist auch nicht sachangemessen.

Wuttke: Das heißt also eine Sockelproduktion, wie sie Franz Müntefering noch bis zum vergangenen Samstag wollte, wäre des Guten doch auch zu viel gewesen?

Tenfelde: Das wäre wohl des Guten zu viel gewesen, es zum jetzigen Zeitpunkt festzulegen. Optionen soll man sich für die Zukunft offen halten. Der Energiemarkt ist hochgradig schwankend, und wir wissen in der Tat nicht, wie sich die Energiepreise entwickeln werden. Wir haben ja manche Überraschung erlebt.

Wuttke: Der Strukturwandel im Ruhrgebiet, das müssen wir mal festhalten, der hat ja, streng genommen, schon Ende der fünfziger Jahre begonnen, und das Ruhrgebiet hat sich darauf vorbereitet, dass diese Entscheidung, wie sie nun getroffen wurde, irgendwann fallen wird. Wie weitreichend sind die Veränderungen im Ruhrgebiet denn bis heute?

Tenfelde: Ich würde sagen, sehr weitgehend. Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir Mitte der 1950er Jahre 550.000 Bergleute im Ruhrgebiet hatten. Wenn wir heute noch 34.000 haben, dann kann man daran ersehen, wie weit der Weg gewesen ist, den man inzwischen gegangen ist, und wie weit der Strukturwandel in der Tat schon vorangeschritten ist. Das ist im Ganzen eine Erfolgsgeschichte des Strukturwandels, auch wenn er über lange Strecken von hoher Arbeitslosigkeit begleitet gewesen ist. Das ist eben das Opfer, das man zu zahlen hat, wenn eine ganze Branche wegbricht.

Wuttke: Ist man also jetzt schon in der Gegenwart angekommen, oder ist man doch den guten Zeiten der Kohle noch sehr verbunden, kann man sich ein Leben im Pott ohne Kohle schon richtig vorstellen?

Tenfelde: Ich würde dies nicht alternativ formulieren. Die Kohle begleitet uns, denn sie hat die Geschichte des Ruhrgebiets gemacht. Die ganze Region verdankt sich der schweren Industrie, weswegen ihre regionale Identität, das Bewusstsein der Menschen, die hier leben, stark davon abhängt. Das ist nicht unbedingt alternativ dazu zu sehen, dass wir im Süden des Ruhrgebiets und in der Hellwegzone, also in der Großstadtzone von Duisburg bis Dortmund nichts mehr von der Kohle bemerken. Ganz anders im Norden des Ruhrgebiets. Das ist die Region, die jetzt stark betroffen sein wird, weil an einzelnen Standorten 4.000, 5.000 Bergleute wegfallen werden, und wie das zu bewältigen ist, das steht noch in den Sternen.

Wuttke: Professor Klaus Tenfelde von der Ruhruni in Bochum, Sie haben gerade das Stichwort Identität geliefert. Sie waren ja in jüngeren Jahren selbst mal Bergmann. Was ist das Wichtigste, was ein Bergmann unter Tage lernt, lernt auch fürs Leben?

Tenfelde: Es ist eine handwerkliche Geschicklichkeit, das Ausgesetztsein den Gefahren gegenüber, die unter Tage nach wie vor beherrschend sind, die Spezifität der Berufstätigkeit, Abgeschiedenheit, Dunkelheit und Dreck und vieles andere, die Kameradschaft der Kumpel untereinander, die zwingend daraus erwächst, denn sonst kann man unter Tage nichts machen. Es ist ein Faszinosum, was den Bergbau umgibt und immer schon umgeben hat. Das reicht bis in die Vorgeschichte zurück. Es ist eine eigene Kultur, die unmittelbar von der Arbeit ausgeht und die das Leben der Menschen auch um die Betriebsstandorte stark beherrscht hat.

Wuttke: Also ganz stark mentalitätsprägend, eben auch, wie Sie geschildert haben, in der Abhängigkeit voneinander. Nun waren ja Anfang des 19. Jahrhunderts Duisburg und Dortmund Städte, die hatten zusammen 10.000 Einwohner. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es im Ruhrgebiet schon fast 300 Zechen, und die Eisen- und Stahlhütten kamen noch dazu. Wie wurde denn dieses Miteinander geprägt? Zunächst einmal, woher kamen die ganzen Arbeitskräfte, die plötzlich gebraucht wurden?

Tenfelde: Die Arbeitskräfte kamen zunächst einmal eher aus der näheren Umgebung. südliches Westfalen, Sauerland, Waldeck in Hessen, also in Bereichen von 100, 200 Kilometern in der Umgebung des Ruhrgebiets, bis die Arbeitsmärkte dort leergefegt waren. Etwa seit 1880 kommen sie zu Hunderttausenden aus den östlichen Provinzen Preußens. 1914 ist etwa ein Drittel der Belegschaft im Rohbergbau, und entsprechend sieht es auch in der Stahlindustrie aus, dieser Herkunft. 500.000 Menschen aus ganz anderen Regionen, die integriert worden sind in die Arbeiterschaft, die Bevölkerung des Ruhrgebiets.

Also dieses ist schon eine gewaltige Leistung damals gewesen. Wir hatten um 1850 erst 12.000 Bergleute, und die Städte waren alle noch Kleinstädte. Seither datiert die hohe Zeit des Bergbaus. Um 1900 haben wir schon weit mehr als 100.000 Bergleute. Seither, bis um 1960, ist die schwere Industrie Leitindustrie gewesen und hat die Region geprägt.

Wuttke: Also kann man sagen, Neuhochdeutsch, das Ruhrgebiet war schon damals ein multikultureller Schmelztiegel?

Tenfelde: Das kann man sagen, nur mit dem Schmelztiegelausdruck wäre ich etwas vorsichtig im Hinblick darauf, dass die Polen, also die Arbeiter polnischer Herkunft in der Zwischenkriegszeit ein merkwürdiges Schicksal hatten, als sie nämlich die Option hatten, nach Polen zurückzuwandern - Polen entstand ja 1919 als eigener Staat erst eigentlich - oder weiterzuwandern. Also einige von ihnen, etliche von ihnen haben sich entschieden das zu tun. Nicht alle sind im Ruhrgebiet geblieben, so dass wir nicht etwa alle hinein verschmolzen haben.

Aber es kamen andere Wanderungsströme, denken Sie nur an die Nachkriegszeit, die italienischen, die jugoslawischen, spanischen, portugiesischen Gastarbeiter bis hin zu den türkischen Gastarbeitern seit etwa 1960. Damals hießen sie Gastarbeiter. Die sind in der Tat über die Generationen hinweg hinein verschmolzen worden in die Bevölkerung.

Wuttke: Das Ruhrgebiet, kulturell gesehen, sind das inzwischen Landschaftsparks und Industriedenkmäler? Wie ist denn die gelebte Geschichte des Ruhrgebiets, auch literarisch zu bewahren?

Tenfelde: Seit etwa 1970 haben wir eine starke Besinnung, sowohl in der Literatur als auch in der Kultur allgemein, auf das, was die Region gemacht hat. Das nennt man hierzulande Industriekultur, und es wird gepflegt durch eine Reihe von sehr wichtigen Museen, die in allen denkbaren wichtigen Standorten des Ruhrgebiets entstanden sind. Jetzt wird in Essen auf Zollverein das Ruhrmuseum neu erstehen als ein Leitmuseum für die gesamte Region.

Die Literatur über das Ruhrgebiet hat sich doch sehr stark an einer Besonderheit seiner Geschichte entzündet. Das war die Geschichte der Klassenkämpfe. Nirgendwo sonst als in der Montanindustrieregion würden die Gegensätze zwischen Unternehmern und Arbeitern in einem solchen Maße einander gegenübertreten als hier. Wenige Kapitalisten, Erzkapitalisten, wenn man so will, und Massen von Arbeitern mit eigenen Interessen. Daran hat sich die Arbeiterliteratur entzündet, und diese hat über Jahrzehnte auch die Region künstlerisch im Bereich der Literatur beherrscht. Wir sind in einer Phase des Übergangs jetzt hin zu einer Literatur, die die Region in ihrer Besonderheit stärker spiegeln wird.

Wuttke: In welcher Besonderheit, in der des Umbruchs?

Tenfelde: In der Besonderheit zum einen der schwer industriellen Prägung, zum anderen des erfolgreich bewältigten Strukturwandels, der schließlich zu einer Fülle von neuen bürgerlichen Existenzen geführt hat, Selbständigkeit oder auch aufgestiegenes Bürgertum. Führende Angestellten- und Beamtenjobs, das ist inzwischen die Normalität einer auch hier jetzt entstandenen Mittelschicht.

Wuttke: Und was ist mit der gelebten Geschichte, die Sie auch anfangs unseres Gesprächs geschildert haben, mit dem Besonderen des Lebens unter Tage, mit den Familien, die in den Siedlungen zusammengelebt haben und alle sozusagen ja nicht nur von einem Arbeitgeber abhingen, sondern auch ein ganz gemeinsames Schicksal hatten, nämlich auch das Bangen darum, kommen die Männer wieder nach oben?

Tenfelde: Ja, man wird nicht umhin können einzuräumen, dass jeder wirtschaftliche Strukturwandel immer auf dem Rücken der Menschen, die in den Branchen arbeiten, ausgetragen wird. Diesen Menschen, die Generation derjenigen, die jetzt im Bergbau arbeiten, diese Menschen werden es auszuhalten haben. Das ist ein ständiges, in der Geschichte sich wiederholendes Schicksal. Denken Sie nur an die Textilindustrie mit 500.000 produktiven Arbeitsplätzen. Diese sind fast gar nicht mehr vorhanden in Deutschland.

Nicht nur der Bergbau ist also eine Branche gewesen, die vom Strukturwandel betroffen gewesen ist. Allerdings war es im Bergbau ganz besonders spürbar, weil hier eine eigene Kultur sich entfaltet hatte, in der die Menschen mit allen Fasern ihres Seins gelebt haben, und mit deren Verlust sie jetzt zu kämpfen haben werden.

Wuttke: Noch eine kurze Frage, Herr Tenfelde: Was also wird bleiben, außer dem Fußball?

Tenfelde: Die Bergbaukultur wird bleiben, denn sie ist eine zähe Kultur. Wir erleben das etwa im sächsischen Altbergbau, wie die Knappenvereine den Bergbau selbst über Jahrzehnte überlebt haben. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Das positive Gemeinschaft stiftende Gefühl wird sicherlich etwa, wie Sie andeuten, den Revierfußball auf Jahrzehnte hinweg bestimmen. Der Pott kämpft, heißt es dann, auch wenn Schalke gegen Borussia spielt, das ist etwas, das fechten wir sozusagen hier in der Region untereinander aus und gegen Bayern München, wenn es denn sein muss.

Wuttke: Dann wünsche ich also eine erfolgreiche Bundesliga. Wir erwarten einen deutschen Meister aus dem Ruhrpott. Vielen Dank, Professor Klaus Tenfelde von der Ruhruniversität in Bochum, über den Ruhrpott, seine Geschichte und seine Zukunft.