Die Begnadigungen

Von Annette Wilmes · 17.11.2005
Etwa 200 Angeklagte standen bei den Nürnberger Prozessen vor Gericht, einige wurden freigesprochen, andere zum Tode verurteilt, viele erhielten Gefängnisstrafen. Doch nur wenige mussten ihre Strafen voll verbüßen. Denn in der Bundesrepublik wuchs der Druck sie zu begnadigen so stark, dass der amerikanische Hochkommissar nachgab.
John McCloy: "Nachdem ich drei Jahre als Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten für Deutschland gedient habe, werde ich sehr bald heimkehren. "

John Mc Cloy war 1949 von Präsident Harry S. Truman zum ersten amerikanischen Hohen Kommissar in Deutschland berufen worden. Sein Name steht für die westlichen Hilfen beim Wiederaufbau einer deutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und für die Annäherung der Bundesrepublik an den Westen.

Während der drei Jahre, in denen sich John McCloy in Deutschland aufhielt, musste er sich immer wieder mit dem Drängen der westdeutschen Öffentlichkeit auseinandersetzen, die Inhaftierten der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse freizulassen. Es waren Vertreter beider großer Kirchen, aber auch Politiker aller Parteien.
Ingo Müller, Strafrechtslehrer in Hamburg, Autor des Buches "Furchtbare Juristen", zählt auf, wer alles beim Hohen Kommissar McCloy vorsprach:

Ingo Müller: "Alles, was in Deutschland Rang und Einfluss hatte. Also Adenauer, von Merkatz, Carlo Schmid, also von Seiten der Sozialdemokraten, Jakob Kaiser, also alle Leute, nach denen heute Straßen und Plätze benannt sind, haben damals bei Mc Cloy antichambriert und haben sich eingesetzt für die Industriellen, für die Offiziere. "

Die ersten in Nürnberg Verurteilten kamen schon im Laufe des Jahres 1950 frei, darunter der Industrielle Friedrich Flick oder der Diplomat Ernst von Weizsäcker. Aber immer noch saß die Mehrzahl in der von den Amerikanern kontrollierten Haftanstalt in Landsberg am Lech ein.

In den Prozessen, die unter amerikanischer Regie in Nürnberg durchgeführt wurden, kamen die grauenvollsten Taten zur Sprache, zum Beispiel die Menschenversuche der KZ-Ärzte oder die Massenmorde in den besetzten Gebieten. Trotzdem wurde der Druck auf Mc Cloy immer stärker. Er selbst, aber auch seine Familie, wurden inzwischen mit Morddrohungen terrorisiert; Leibwächter übernahmen den Schutz seiner Kinder.

In Landsberg demonstrierten etwa 3000 Menschen für die Begnadigung der zum Tode Verurteilten. Demonstriert wurde für die Täter. Für die Opfer setzte sich kaum jemand ein – weder für die überlebenden Juden noch für die Zwangsarbeiter. Ingo Müller:

Ingo Müller: "Die Stimme gab es praktisch nicht. Allein schon, weil die mundtot gemacht wurden. Die vielleicht stärkste Organisation der Opfer, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, war Anfang der 50er Jahre schlicht als staatsfeindlich erklärt worden, waren Verfassungsfeinde. Die Opfer des "Dritten Reichs” waren eben auch die Opfer des Kalten Krieges. "

Ende Januar 1951 rang sich John McCloy zur Begnadigung durch. Auf einen Schlag kamen 32 Verurteilte frei, darunter Alfried Krupp, verurteilt vor allem wegen Ausplünderung und der Beschäftigung von Sklavenarbeitern, die in unmenschlicher Weise behandelt worden waren.

Von den in den Nürnberger Prozessen verurteilten Kriegsverbrechern wurden 1951 die meisten entlassen. Die meisten Todesurteile aus den Nachfolgeprozessen wurden durch John McCloys Gnadenerlass in Haftstrafen umgewandelt. Aber bei sieben Todesurteilen blieb der US-Hochkommissar hart: Keine Gnade für Einsatzgruppen- und Kommandoführer wie Paul Blobel, Werner Braune, Erich Naumann und Otto Ohlendorf, verantwortlich für die Ermordung zahlreicher Juden, Zigeuner, Geisteskranker und Kommunisten.

Am 7. Juni 1951 wurden die letzten sieben Todesurteile vollstreckt.
Die Verhandlungen gingen weiter. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Wehrmachtsoffiziere, die wegen Kriegsverbrechen verurteilt worden und in den Gefängnissen der drei Westalliierten inhaftiert waren. Bundeskanzler Adenauer am 6. April 1951 im Deutschen Bundestag:

Adenauer: "Ich bitte diese Gefangenen und zwar alle, davon überzeugt zu sein, dass die deutsche Bundesregierung alles das tut, was in ihrer Kraft steht, um das Los der Gefangenen zu erleichtern und ihnen bald möglichst die Freiheit wieder zu verschaffen. "

Die Westalliierten, vor allem die USA, waren unter dem Druck des Kalten Krieges sehr an der Wiederbewaffnung Deutschlands interessiert. Das machte sie in der Kriegsverbrecherfrage angreifbar. Bei den Verhandlungen nutzte Adenauer diesen Schwachpunkt der Verhandlungspartner aus und brachte immer wieder das Problem der Kriegsverbrecher zur Sprache.

Schließlich gaben die Alliierten nach und stellten ihr strategisches Interesse an einem Militärbeitrag der Bundesrepublik über die Wahrung der Prinzipien von Nürnberg. In Landsberg wurden am 9. Mai 1958 die letzten Nazi-Verbrecher entlassen.