Die Banlieues als Baustelle

05.03.2009
Die Unruhen in den Pariser Banlieues 2005 waren kein plötzliches Gewitter, das über die französische Gesellschaft kam. Sie galten vielmehr als Symptom einer allgemeinen Situation - nicht nur in Frankreich. Der französische Soziologe Robert Castel hat mit "Negative Diskriminierung – Jugendrevolten in den Pariser Banlieus" nun ein Buch über die Problematik geschrieben.
Es ist eine selten erhellende analytische Schrift, diese Arbeit von Robert Castel, um es vorweg zu sagen. Der Autor überzeugt einmal, indem er die Umstände der Revolten von 2005 in Beziehung setzt zu den allgemeinen Verhältnissen, wie sie heute in Frankreich herrschen, zum anderen dadurch, dass er zugleich die tiefer liegenden Ursachen der Unruhen beschreibt und die Aufmerksamkeit auf ein ganzes Bündel von Problemen lenkt.

Hüten wir uns vor einer Deutung, die diese Ereignisse isoliert betrachtet und auf den Moment ihres Auftretens reduziert.

Jene Ereignisse seien Teil einer Entwicklung, eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, betont Castel mehrmals. Es gehe um die Position, die die Jugendlichen in unserer Gesellschaft eingenommen haben. Eben die müsse in all ihren Facetten begriffen werden.

Wir möchten zeigen, dass ihr Drama darin besteht, dass sie im Grunde genommen weder "drinnen" noch "draußen" sind, sondern an die Ränder der sozialen Welt verbannt werden. Für Castel bestehe die überzeugendste Interpretation der städtischen Gewalt vom Herbst 2005 darin, dass es sich um einen Aufstand der Verzweiflung handelte. Die Aufrührer forderten nichts, ihre Auftritte wirkend sporadisch und improvisiert. In heftigen Wutausbrüchen gingen sie auf die Ordnungskräfte los, steckten Autos und öffentliche Gebäude in Brand. Es gab keine Führungsfiguren, keinen organisierten Widerstand, keine einlösbaren Forderungen. Gefordert wurde lediglich der Rücktritt des damaligen französischen Innenministers, nachdem er wildeste Beleidigungen von sich gegeben hatte.

Wissenschaftliche Ansätze drängen danach, durchgeführt zu werden, wie die Themen einer Fuge. In welcher Art das gelingen kann, demonstriert das Buch von Castel auf bewundernswerte Weise. Sein entscheidender Ansatz: Die Ränder der Vorstadt sind kein exotisches Terrain "als vielmehr die Überdetermination der Vorgänge im Zentrum der Gesellschaft und ihrer Probleme". Castel hält mit seiner Analyse den Gesamtverhältnissen in Frankreich gleichsam den Spiegel vor. Es sieht nicht gut aus, was darin zu sehen ist.

Obwohl sie als Benachteiligte, Disqualifizierte ohne Perspektive am Rande der Gesellschaft hausten, würden sich an den rebellierenden Jugendlichen alle möglichen Ängste festmachen, die auch durch die übrige französische Gesellschaft geistern. Das sei ein dynamischer Prozess.

Wir müssen versuchen, diese Dynamik erkennbar zu machen, durch die sich die Risse im Zentrum an den Rändern manifestieren und gerade diejenigen für die gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht werden, die ihre eigentlichen Opfer sind.

Robert Castel umreißt soziologische Felder und geht dabei sehr genau vor. In dem Kapitel "Die Konstruktion eines Abschieberaums" beschreibt er die strahlenden Satellitenstädte der sechziger Jahre als die künftigen Schlafstädte, in denen nun die Öde und der Rückstand herrschen, in denen die Menschen verkümmern, ohne dass sie ganz aus der Gesellschaft ausgeschlossen wären.

In dem Raum, der noch kein Getto ist, wohne sozialer Sprengstoff ebenso wie in den sonstigen Räumen des Niedergangs. Jegliche Übertreibung vermeidet der Autor. Vielmehr analysiert er die Formen des sozialen Abstiegs der Menschen in den Problemzonen, die Benachteilung besonders der ethnischen Minderheiten in beruflicher, bildungsmäßiger, ethnischer und religiöser Hinsicht.

Thema ist auch die Diskriminierung durch Polizei und Justiz. Je mehr Unterschichten in den Vorstädten und der ganzen französischen Gesellschaft ungleich behandelt werden, was immer mehr ins Zentrum rücke, je mehr sei das Verhältnis der Rebellierenden zu den Polizeikräften und der Justiz der sichtbarste Ausdruck dieser Ungleichbehandlung.

Nach wie vor sind die "Ordnungskräfte" nur der bewaffnete Arm eines Staatsapparats, der zur Niederschlagung von lokalen Unruhen von außen einmarschiert, und es ist noch längst nicht gelungen, die Polizei zu einem wirklichen öffentlichen Dienst, zu einer bürgernahen Instanz zu machen.

Bestechend die geschichtliche Analyse, die der Autor gibt, indem er ein so farbiges wie widersprüchliches Bild der Etappen des Aufstiegs, der Stagnation und Krise der französischen Gesellschaft bis in die Gegenwart zeichnet, die er sehr kritisch sieht. Gleichwohl ist Robert Castel stolz, schaut er durch die soziologische Brille auf das republikanische Erbe wie die progressive Moderne in seinem Land, Errungenschaften, die er nicht durch katastrophale Entwicklungen zerschunden sehen will. Deswegen kommen manchmal auch idyllische Bilder zum Vorschein. Aber das nimmt von der hohen analytischen Qualität des Buches, das auch fließend und engagiert geschrieben ist, nichts weg. Sein Schlusssatz lautet:

Die Banlieue ist kein Getto, sie ist eine Baustelle, auf der viel zu tun, aber auch viel zu lernen ist.

Rezensiert von Stefan Amzoll

Robert Castel: Negative Diskriminierung - Jugendrevolten in den Pariser Banlieues
Verlag Hamburger Edition 2009, 123 Seiten, 15 Euro