"Die Aufmerksamkeit hat zugenommen"

Moderation: Frank Meyer · 27.11.2007
Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert und ehemalige Leiter der Arbeitsgruppe des deutschen Wissenschaftsrates zur Zukunft der Geisteswissenschaften lobte die Präsenz ihrer Leistungen in der Öffentlichkeit wie in kaum einem anderen Land. Er verwies allerdings auf die "rabiate Verschlechterung" der Lehre in den letzten 15 Jahren.
Frank Meyer: Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert hat die Arbeitsgruppe des Deutschen Wissenschaftsrates zur Zukunft der Geisteswissenschaften geleitet, und er ist jetzt für uns im Studio. Ulrich Herbert, was ist denn Ihre Bilanz? Hat das Jahr der Geisteswissenschaften etwas gebracht?

Ulrich Herbert: Na ja, es hängt davon ab, was man erwartet. Das ist ja im Wesentlichen eine Aktion, um die öffentliche Aufmerksamkeit für die jeweiligen Fächer zu erhöhen und auch in einer breiteren Öffentlichkeit die Diskussionen zu führen, die sonst nur im engen Rahmen der Akademiker geführt werden. Und insofern war das schon sinnvoll, weil die Zahl der Artikel, der öffentlichen Veranstaltungen, die Aufmerksamkeit insgesamt hat doch stark zugenommen. Wenn man jetzt nicht glaubt, dass sich dadurch alle Probleme ändern und verbessern würden, dann war das okay.

Meyer: Also eine vorsichtig positive Bilanz von Ihnen. Bei der Eröffnung dieses Jahres der Geisteswissenschaften im Januar hat die Bundesministerin Annette Schavan die Geisteswissenschaften gemahnt, mutiger und selbstbewusster ihren Nutzen für die Gesellschaft herauszustellen. Wie ist Ihre Beobachtung, haben die Geisteswissenschaften das getan?

Herbert: Na, hoffentlich nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leistungen der Geisteswissenschaften in der Öffentlichkeit zu wenig berücksichtigt oder gewürdigt würden. Nur heißen sie eben nicht immer Geisteswissenschaften. Wenn man sich anschaut, welche Aufmerksamkeit in Deutschland durchaus im Vergleich zu anderen Ländern die Museen etwa haben, die historischen, aber auch die kunstgeschichtlichen Museen, die Vielzahl der Ausstellungen, die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Themen in den Feuilletons, ganz zu schweigen von dem gesamten Kulturbereich von Theater, Musik und ähnlichem, mit denen ja die Geisteswissenschaften aufs Engste verbunden sind, dann werden Sie Probleme haben, ein anderes Land in Europa oder der Welt zu finden, in dem die Geisteswissenschaften ähnlich präsent sind mit ihren Leistungen und ihren Ergebnissen in der Öffentlichkeit. Insofern darf man nicht immer nur sozusagen an die Universitätsfächer denken, sondern an die breite Repräsentanz dieser Fächer in unserem Leben. Das ist schon enorm. Und die Leistungen, das hat auch der Wissenschaftsrat sehr, sehr deutlich gemacht, sind nicht nur bedeutend, sondern auch international hoch angesehen. Und ich glaube auch nicht so sehr, dass es den Geisteswissenschaftlern an Mut fehle. Wenn man sich die öffentlichen Debatten der letzten 12, 14, 18 Monate anschaut über verschiedene politisch-kulturelle Themen, dann sind es fast immer Geisteswissenschaftler, die dazu beitragen oder sie führen.

Meyer: Aber man hört doch überall die Klage, Herr Herbert, dass die Geisteswissenschaften von den Natur- und Technikwissenschaften an die Wand gespielt werden, dass die Ressourcen in den Universitäten umverteilt werden zulasten der Geisteswissenschaften. Sind das alles Fehlinformationen?

Herbert: Ja, das kann man so sagen, das sind Fehlinformationen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben wir die Klagen der Geisteswissenschaftler und ihrer Umgebung, dass sie von der modernen Technik, von den Naturwissenschaften an die Wand gedrückt würden. Wenn man sich die Zahlen anschaut, so stimmt das so nicht. Wir haben gleichbleibende Anteile der Geisteswissenschaften in den Förderungsbereichen. Wir haben, was die Forschung angeht, eigentlich eine gute Situation. Wir haben allerdings, und das ist der Punkt oder der Kern der Kritik, in den letzten etwa 15 Jahren eine rabiate Verschlechterung der Situation an den Universitäten. Und hier ist sozusagen der Kern auch der Beschwerden und auch dessen, was Krise genannt wird.

Meyer: An den Universitäten, das heißt in der Lehre vor allem?

Herbert: Ja. Wir haben, um nur ein Beispiel zu nennen, wir haben zwischen 1995 und 2004 knapp 50 Prozent mehr Studierende in den geisteswissenschaftlichen Fächern bei gleichbleibender Zahl der Professoren. Das heißt, die Betreuungsrelation hat sich in diesen doch sehr wenigen Jahren wirklich dramatisch verschlechtert. Und daher rührt auch ein Großteil der Frustration der Kolleginnen und Kollegen in den Universitäten, weil von ihnen einerseits und zu Recht verlangt wird, sie mögen ihre Themen doch bitte mutiger in der Öffentlichkeit vertreten und das, was sie für die Gesellschaft leisteten, auf der anderen Seite aber, ohne dass die Öffentlichkeit das wirklich wahrgenommen hat, in einem Ausmaß mit der Lehre und mit einer Studentenzahl belastet sind, wie es das in dieser Form in keinem anderen entwickelten Industrieland des Westens gibt.

Meyer: Ulrich Herbert, Sie haben auch bei einer Veranstaltung in Berlin vor kurzem die mangelnde Qualität in den Geisteswissenschaften beklagt. Sie haben da gesagt, manche Abschlussprüfung an der Universität erreiche nicht einmal das Niveau von Abiturprüfungen, und die Geisteswissenschaften seien sich weder über ihre Leistungsmaßstäbe klar noch über ihre Gegenstände. Liegt das nur an der großen Zahl der Studenten oder woran?

Herbert: Es hat jedenfalls sehr stark damit zu tun. Bedenken Sie, wir hatten etwa noch in den 70er Jahren, als ich studiert habe, knapp 15 Prozent eines Jahrgangs, der an die Universitäten ging. Und von denen ging etwa ein Fünftel in die Geisteswissenschaften. Die Zahl der Professoren war damals zwar geringer als heute, aber im Verhältnis zur Zahl der Studenten ein Vielfaches höher. Wir haben nun fast 40 Prozent eines Jahrgangs an den Universitäten, und der Zuwachs, der in den vergangenen Jahren politisch gewollt wurde, bis zu 40 Prozent eines Jahrgangs in die Universitäten zu bringen, ist zu einem weit überproportionalen Anteil in die Geisteswissenschaften geflossen. In den vergangenen zehn Jahren fast ausschließlich, das muss man sich mal vorstellen. Und dadurch haben wir eine Leistungsbandbreite der Studierenden, die tatsächlich so weit reicht, von Studierenden, die auch beim Abschluss nicht sehr viel weiter gekommen sind als ihr Ausgangspunkt, weil die Betreuung schwach ist, weil die Universität vielleicht hier auch keinen Schwerpunkt hat und aus anderen Gründen, bis zu – und das habe ich auch gesagt in Berlin, das ist allerdings in den Zeitungsberichten weniger berücksichtigt worden –, wir haben eine Leistungsspitze, die im internationalen Vergleich und im Zeitvergleich der letzten 50 Jahre es so noch nie gegeben hat. Das heißt, wir haben mittlerweile Abschlussarbeiten, Magisterarbeiten, die ein Niveau haben, damit hätte man vor 20 Jahren eine gute Promotion bestanden. Und wir haben – das sehen wir ja auch im Export unserer promovierten Kollegen in benachbarte Länder, nach England oder USA – offenbar einen sehr hohen Leistungsstart in der Spitze. Und diese Bandbreite von doch sehr schwachen Leuten bis zu überragend guten Leuten auf ein und derselben Ebene ist eines der großen Probleme.

Meyer: Und für diese katastrophale Situation in der Lehre – Sie haben da in einem Artikel mal von einer "kontrollierten Verwahrlosung" an den Universitäten gesprochen, hat dafür das Jahr der Geisteswissenschaften irgendetwas gebracht?

Herbert: Ja, zumindest ist die Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden, dass es hier eine Entwicklung gegeben hat, die zum Nachteil ist, auch zum Nachteil der eigenen Kinder, wenn man sie solche Fächer studieren lassen möchte. Wobei man ja sagen muss, das ist in den einzelnen Universitäten und zum Teil auch Fakultäten sehr unterschiedlich. Es gibt nach wie vor Universitäten mit sehr guten Betreuungsrelationen, aber die großen oder die riesengroßen Universitäten, die sind wirklich voll oder übergelaufen.

Meyer: Aber ich will noch mal zurück auf diesen Punkt, die Ursachen für diese mangelnde Qualität. Sind es tatsächlich allein, wenn Sie sagen, die Leistungsmaßstäbe sind eigentlich nicht mehr klar, auch die Gegenstände in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind nicht mehr klar – gibt es da nicht auch einen Ansatz in der Forschung selbst, in den Geisteswissenschaften selbst, der zu solchen Verunsicherungen geführt hat?

Herbert: Ja, aber das ist kein spezifisch deutsches Problem, wenn ich das, was ich eben nannte, vorwiegend auf die deutsche Situation beziehen würde, mit ein paar Ähnlichkeiten in manchen benachbarten Ländern, aber im Grunde doch sehr typisch für uns, ist die Frage, welche Themen manche Geisteswissenschaften behandeln, doch ein internationales Problem. Nehmen wir die Philologien wie etwa bei uns die Germanistik, unser größtes Fach, was die Studierendenzahlen angeht, so ist durch den gesamten Medienbereich, auch durch die audiovisuellen Medien, der Umgang mit Sprache und Literatur in einer solchen Weise verbreitert worden, dass die Gegenstände sich in außerordentlich starkem Maße erweitert und diversifiziert haben. Und in manchen Fächern hat das dazu geführt, dass die einzelnen neuen Richtungen dieses Faches immer weniger miteinander zu tun haben, und die Mitte des Fachs auch gewissermaßen, der gemeinsame Gegenstand, die gemeinsamen Methoden in den Hintergrund gerückt sind zugunsten der Spezialität der Subdisziplinen. Das ist ein Phänomen, das wir überall beobachten. In den USA gibt es schon seit vielen Jahren eine Diskussion um Kanonbildung, also um die Einigung und den Konsens in den Fächern über gewissermaßen einen Kernbestand an Gegenständen, Methoden, den unabhängig von den einzelnen Richtungen jeder zur Kenntnis zu nehmen hat. Das ist ein internationaler Diskussionsprozess, an den wir uns anschließen und auch anschließen müssen. Und zum anderen gibt es eine Diskussion um Leistungsmessung in den Geisteswissenschaften. Nun sind wir, also geisteswissenschaftliche Professoren, unablässig dabei, Leistungen zu messen, sei es in Prüfungen, sei es in Gutachten, sei es bei Besetzungen von Stellen, aber es gibt keine Systematik der Messung wissenschaftlicher Leistung. Das ist bei uns auch viel schwieriger, weil wir in der Regel nicht in Aufsätzen publizieren, deren Zahl und deren Qualität man dann reihen könnte nach der Qualität der bestimmten Zeitschriften, so wie das in den Naturwissenschaften der Fall ist, sondern wir tun das vorwiegend in Büchern. Und eines unserer Ziele ist nebenbei auch noch, dass diese Bücher nicht alleine für die Fachöffentlichkeit geschrieben sein sollen, sondern womöglich auch von einem breiteren Publikum. Das unterscheidet sich natürlich vollständig von den meisten Disziplinen der Naturwissenschaften. Und hier eine vernünftige und angemessene Leistungskontrolle zu finden, die auch von allen akzeptiert wird, ist sehr, sehr schwierig. In manchen angelsächsischen und auch in skandinavischen Ländern ist man dabei, das zu entwickeln. Wir haben aber natürlich aufgrund der Tatsache, dass wir in Deutsch in der Regel nicht in Englisch publizieren hier noch Nachholbedarf. Und das ist zurzeit umstritten, wie weit das gehen soll. Das war auch eines der Themen in Berlin.

Meyer: Also viele offene Fragen, viele Aufgaben am Ende des Jahres der Geisteswissenschaften 2007. Heute wird das offiziell beendet. Und eine Bilanz habe ich gezogen im Gespräch mit dem Historiker Ulrich Herbert. Danke Ihnen sehr!

Herbert: Danke auch!