Die Angst vor der Atombombe

Von Cornelie Ueding · 21.02.2012
Drei Physiker im Irrenhaus: Der eine hat die Formel, um die Erde zu vernichten. Die anderen beiden wollen sie. Sie sind Agenten der beiden Machtblöcke im Kalten Krieg. Mit seinem Stück "Die Physiker" traf Friedrich Dürrenmatt 1962 den Nerv der Zeit.
"Verrückt – aber weise.
Gefangen – aber frei.
Physiker – aber unschuldig."

Für Friedrich Dürrenmatt bedeutete die stürmisch umjubelte Uraufführung der "Physiker" am 21. Februar 1962 im Zürcher Schauspielhaus die Anerkennung als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dramatiker. Die Groteske traf den Nerv der Zeit: die Angst vor der Atombombe. Drei Verrückte, die sich für Physiker halten? In Wahrheit handelt es sich bei den drei "Patienten", die in der alten Villa eines Sanatoriums interniert und isoliert sind, um einen Physiker, der sich ins Irrenhaus zurückgezogen hat, um seine bahnbrechende Entdeckung vor Missbrauch zu schützen. Die anderen beiden sind Agenten, Vertreter der beiden Machtblöcke des Kalten Krieges. Auch sie spielen verrückt und haben sich einweisen lassen, um seine Aufzeichnungen auszuspionieren und die Erkenntnisse für die Interessen ihres Landes nutzbar zu machen.

Nach seinem Motto "Was jeden treffen kann, betrifft jeden", war Dürrenmatt sicher einer der Ersten, der sich des brisanten Themas der Verantwortung der Naturwissenschaftler im Zeitalter der nuklearen Bedrohung künstlerisch angenommen hatte.

"Die Physiker im Allgemeinen sind ja sehr verständnisvoll für die Schwierigkeiten, die ihr Denken in die Welt gebracht hat. Aber es liegt ja nicht an ihrem Denken, dass dieses Denken gefährlich geworden ist. Das liegt in der Beschaffenheit der Welt. Dass sie genau wissen, was ihr Denken und ihr Forschen eben für Resultate haben kann, und dass sie nicht imstande sind, diese Resultate zu verhindern."

Schon 1949 ließ Dürrenmatt in dem satirischen Kabarett-Sketch "Der Erfinder" einen verrückten Professor auftreten: mit einer Miniaturbombe, die, "heller als 1000 Sonnen", die gesamte Menschheit vernichten könnte - bevor sie gerade noch rechtzeitig im Dekolleté einer Dame entschärft werden kann. Durch eine andere Dame, Therese Giehse als wahnsinnige Irrenärztin und Anstaltsleiterin, sollte freilich in den "Physikern" die theatralische Bombe erst so richtig zünden. Die angeblich auf Wunsch der Giehse erfolgte Umarbeitung des ursprünglich als Männerrolle gedachten Leiters des Irrenhauses in eine Frauenrolle ist mehr als eine hübsche Theateranekdote. Dürrenmatt führt in einem Gespräch mit Fritz J. Raddatz dazu aus:

"Zuerst hatte ich einen Irrenarzt konzipiert. Dann begriff ich, dass der streng logischen Welt der drei Physiker nur eine verrückte Frau gegenüberstehen kann. Wie ein verrückter Gott, der sein Universum gestaltet."

Niemand konnte den exaltiert-aalglatten Gestus des kalkulierten Selbstvernichtungs-Wahnsinns so im erschreckendsten Sinne professionell auf die Bühne bringen wie die Giehse und tückisch – ganz kompetente Ärztin – die Angst anderer vor der Radioaktivität schüren: So lenkt sie die Aufmerksamkeit des Kommissars, der die drei von ihr initiierten Morde der Physiker an ihren Betreuerinnen aufklären soll, auf eine Spur des Nicht-Nachweisbaren.

"Z: Inspektor. Fällt Ihnen nichts auf?
I: Inwiefern?
Z: Denken Sie an die beiden Kranken.
I: Nun?
Z: Beide sind Physiker. Kernphysiker.
I: Und?
Z: Sie sind wirklich ein Mensch ohne besonderen Argwohn.
I: Fräulein Doktor – Sie glauben ...
Z: Beide untersuchten radioaktive Stoffe.
I. Sie vermuten einen Zusammenhang?
Z: Ich stelle nur fest. Das ist alles. Beide werden wahnsinnig. Bei beiden verschlimmert sich das Leiden. Beide werden gemeingefährlich. Beide erdrosseln Krankenschwestern.
I: Sie denken an eine Veränderung des Gehirns durch Radioaktivität?
Z: Ich muss diese Möglichkeit leider ins Auge fassen."


"Die Physiker" enden mit der berühmten Dürrenmatt’schen "schlimmstmöglichen Wendung":

"Es ist aus. Die Welt ist in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen."
"Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden."


So makaber freilich die Vernichtungsvisionen von Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd sind – de facto fand die bisher schlimmstmögliche Wendung nicht im Theater statt, sondern draußen: Nach Tschernobyl und Fukushima sind Dürrenmatts "Physiker" aktueller denn je. Die Halbwertzeit dieses Themas ist trotz der Überwindung des Kalten Krieges längst noch nicht überschritten. Immerhin: Die 50 Jahre zwischen Uraufführung und Jubiläum markieren punktgenau den Beginn und das Ende des "Festhaltens" am Mythos Atomzeitalter.


Mehr über Friedrich Dürrenmatt im DLF-Büchermarkt: mit der Besprechung eines Bildbandes sowie einer Dürrenmatt-Biografie.
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