Dialogische Klangwelt

29.05.2012
Mit dem kurz vor seinem Tod erschienenen Roman "Austerlitz" ist W. G. Sebald sein ‚opus magnum’ gelungen. Jaques Austerlitz, der als Kind von Prag nach England emigrieren musste, sucht die Orte seiner Kindheit auf. Gegenwart und Vergangenheit veschwimmen. Ein äußerst gelungenes Hörspiel von Stefan Kanis.
"Austerlitz, Aus ter litz oder Austerlitz?"

Jaques Austerlitz erinnert sich an jenen Moment, als ihm einer seiner Lehrer mitteilt, dass er fortan auf seine Examenspapiere nicht mehr den Namen Dafydd Elias, sondern Jacques Austerlitz schreiben soll. Zunächst ist ihm dieser neue Name fremd.

"Am meisten verunsicherte mich, dass ich mir unter dem Wort Austerlitz, nicht das geringste vorstellen konnte. Austerlitz hatte ich nie zuvor noch gehört."

Über den Namen nähert sich Austerlitz seiner Lebensgeschichte. Weil sie ausgelöscht werden sollte, ist er gezwungen, sie Stück für Stück zu rekonstruieren. Im Bahnhof von Antwerpen trifft Austerlitz auf einen namenlos bleibenden Erzähler, der gerade das Nachttierhaus des Antwerpener Zoos besucht hat.

"Ich weiß nicht mehr genau, was für Tiere ich seinerzeit in dem Antwerpener Nocturama gesehen habe. Wirklich gegenwärtig geblieben ist mir eigentlich nur der Waschbär, den ich lange beobachtete, wie er mit ernstem Gesicht bei einem Bächlein saß und immer wieder denselben Apfelschnitz wusch. Als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er ohne sein eigenes zutun geraten war."

Mit einem Kindertransport kam Jaques Austerlitz im Sommer 1939 nach England, wo er im Haus des calvinistischen Predigers Emyr Elias und seiner Frau aufwuchs. Es war kalt in diesem vom Schweigen beherrschten Haus, in dem Austerlitz nie heimisch wurde. Wärmer aber wird ihm auch nicht auf der Reise, die ihn wieder zurück zu den Orten seiner Kindheit führt.

Für die Hörspielfassung des 2001 erschienenen Romans "Austerlitz" von W. G. Sebald hat der Regisseur Stefan Kanis mit Ulrich Mathes und Ernst Jacobi zwei überragende Sprecher gewinnen können. Bei der Übertragung von Sebalds ‚opus magnum’ in eine dialogische Klangwelt wird auf ihre Stimmen gesetzt. In der Rolle des Erzählers ist Ulrich Matthes zu hören.

Er vermag die unerschrockene Souveränität im Umgang mit einem ihm gänzlich fremden Menschen sprachlich zu vermitteln. Als Chronist hört er nur noch zu, wenn Ernst Jacobi als Austerlitz mit ruhiger, so überaus warmer Stimme von seinen Exkursionen ins gefrorene Meer der Vergangenheit berichtet, bei denen ihm immer deutlicher wird, dass es sich bei Vergangenheit und Gegenwart um keine voneinander geschiedenen Zeiträume handelt.

Wie hinter hohen Festungsmauern scheint Austerlitz’ Vergangenheit verborgen zu liegen. Da ihm der Weg ins Innere der Festung versperrt bleibt, ist er auf Hilfe angewiesen, wenn er sich Zugang verschaffen will. In Prag findet er nach langem Suchen Vera, sein damaliges Kindermädchen. Rosemarie Fendel als Vera weiß Zuneigung zu Austerlitz über die Stimme auszudrücken.

"Wenn einem die Erinnerung kommt, glaubt man mitunter, man sehe durch einen gläsernen Berg in die vergangene Zeit, und wenn ich jetzt, da ich dir dies erzähle, die Lider senke, so sehe ich uns beide, reduziert auf unsere krankhaft erweiterten Pupillen, von dem Aussichtsturm auf dem Petrinberg hinabschauen auf den grünen Hügel, wo sich soeben der Funiculaire gleich einer dicken Raupe bergauf bewegt."

Den drei überragenden Stimmen gelingt es, einen Hörkosmos zu entwerfen, in dem die kunstvoll gebauten Musikminiaturen von Cornelia Friederike Müller wie kleine Sterne auffunkeln. Wenn es an dieser Hörspielproduktion des Mitteldeutschen Rundfunks etwas zu bemängeln gibt, dann ist es die Entscheidung, Sebalds Roman auf eine Kurzfassung zu reduzieren, die bereits nach 82 Minuten zu Ende ist.

Besprochen von Michael Opitz


W. G. Sebald: Austerlitz. Hörspiel
Produktion Mitteldeutscher Rundfunk
Der Hörverlag, München 2012
1 CD, 82 Minuten, 14,99 Euro


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