Dialog mit einer vertrauten Fremden

Rezensiert von Ursula März · 02.10.2006
Die Mutter will gegen Mittag ihr Abendessen, sie will am Sonntag einkaufen und geht im Sommer mit einer Pelzmütze auf die Straße - Diagnose: Alzheimer. Doch ihre Tochter will den Kontakt zu ihrer Mutter nicht aufgeben. "Du denkst, du weißt alles" ist ein unbestechlich sensibler und zutiefst menschlicher Dialog zwischen einer erwachsenen, liebenden Tochter und einer an Alzheimer erkrankten Mutter.
Zeitlebens war die Mutter eine Meisterin des Kreuzworträtsels. Sie übersprang die einfachen Aufgaben und machte sich, wenn sie in der Zeitung die Rätselseite aufschlug, sofort an die schwierigen. Die erwachsenen Kinder sind an den Anblick gewöhnt, an die Handschrift der Mutter, die in der Zeitung die Lösungen für die schwierigen Kreuzworträtselaufgaben an die entsprechenden Kästchen eingetragen hat.

Irgendwann weicht dieser Anblick von der Gewohnheit ab. Etwas stimmt nicht. Einige Buchstaben in den Wörtern sind vertauscht. Einige Wörter ergeben keinen Sinn. Und noch irritierender ist es, dass die Mutter selbst keine Fehler erkennen will. Die Fehler häufen sich, die Lücken im Gedächtnis werden größer. Die Mutter beklagt sich mittags, dass sie kein Abendessen bekam. Am Sonntag will sie unbedingt einkaufen gehen.

Und dann kommt der Tag, an dem sie die Kinder fragt, wer eigentlich ihr Vater sei. Kurz darauf die medizinische Diagnose: Alzheimer. Eine Demenzkrankheit, bei der nicht nur das Gehirn des Kranken zerfällt, sondern der gesamte Vereinbarungskodex sozialer und familiärer Beziehungen und Rollen. Mit wem sprechen die Kinder, wenn sie mit der Frau sprechen, die sich nicht daran erinnert, Kinder zu haben? Die darauf beharrt, allein in ihrer Wohnung zu leben, weil sie es als selbstverständlich empfindet, in der Kühltruhe des Supermarktes Stützstrumpfhosen zu suchen, im Sommer mit einer Pelzmütze auf die Straße zu gehen, sich mitten in der Nacht an den Küchenherd zu stellen, um das Weihnachtsmenü vorzubereiten.

Was bleibt vom Menschen, wenn er sich nicht mehr an das eigene Leben, nicht mehr an sich selbst erinnert, ja selbst das Leiden über diesen Schwund vergisst und den Schwund als Normalität begreift? Marie Peterson, eine in Schweden bekannte Kritikerin und Kulturjournalistin hat in ihrem Roman "Du denkst, du weißt alles" über den Umgang mit einer an Alzheimer erkrankenden alten Frau geschrieben, aus der Perspektive der Tochter und wohl aus eigener Erfahrung. Die Autorin nimmt - und das ist das erzählerisch Bestechende und ethisch Humane des Buches - nicht die Rolle der gesunden Beobachterin, die die Defekte, Fehlhandlungen und zahllosen großen und kleinen Alltagsverrücktheiten protokolliert wie ein außenstehender Arzt.

Sie bezieht sich in den Kosmos der Krankheit mit ein, denn der Roman besteht an erster Stelle aus Dialogen. Er gibt die Gespräche zwischen Mutter und Tochter wieder, Gespräche über die unmittelbare Gegenwart, über Wahrnehmungen und Verrichtungen und über die Vergangenheit. Diese Gespräche aber kann die Tochter mit der Mutter nur führen, weil sie sich auf deren Kommunikationsvermögen und - verhalten vollkommen einstellt und ihr in Augenhöhe begegnet. Sie stellt Antworten, gibt Fragen, verfolgt Phantasien, spricht in einer Weise, in der sie mit einer Gesunden nicht sprechen würde. Die Gesunde tritt - aus Liebe - in den gedanklichen und mündlichen Text der Kranken ein. So entsteht aus der lebensnahen, fast hörspielhaften und einfachen Machart des Romans am Ende eine Art platonisches Gespräch über Krankheit und Gesundheit, dessen Experiment darin besteht, die Kranke und die Gesunde zum Verwechseln nahe zu bringen.

Marie Peterson: Du denkst, du weißt alles
Roman
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch
Atrium Verlag Zürich, 2006
158 Seiten, 16,90 Euro