Deutschlands letzter jüdischer Wunderheiler

Von Katharina Schmidt-Hirschfelder · 14.01.2011
Der Judaist Karl Erich Grözinger hat sich auf Spurensuche im hessischen Odenwald begeben, um Leben und Wirken des letzten jüdischen Wunderheilers in Deutschland zu ergründen - ein Leben zwischen Mittelalter und Moderne.
Karl Erich Grözinger hat der Stadt ihre Seele zurückgegeben. Das schreibt der Michelstädter Bürgermeister im Vorwort zum Buch. Worte, die Grözinger berühren. Denn Seckel Löb Wormser, der Baal Schem von Michelstadt, fasziniert den Religionswissenschaftler seit Jahrzehnten. Schließlich spiegelt die Geschichte des jüdischen Wunderrabbis, der vor 200 Jahren in der hessischen Kleinstadt im Odenwald Kranke heilte, auch ein Stück weit die Geschichte des deutschen Judentums. Schon damals, knapp 20 Jahre nach Kriegsende, erstaunten Grözinger die vielen Bittzettel, die im Grabstein von Deutschlands letztem Baal Schem steckten. Bei seinen Nachforschungen hat der Autor Erstaunliches zutage gefördert:

"Er war ein orthodoxer Rabbiner in seinem Habitus. Er war ein kabbalistisch gebildeter Rabbiner. Er war ein chassidisch angehauchter Rabbiner. Er war ein tätiger Baal Schem und hat sich zugleich mit moderner Philosophie und Pädagogik befasst. Er hat das alles in seinem häuslichen Kreis gepflegt und weitergegeben an Studenten und Waisenkinder, die er in seinem Haus aufgenommen und rabbinisch gebildet hat."

Baal Schem bedeutet Kenner der Gottesnamen. Doch Seckel Löb Wormser war durchaus kein Einzelfall. Seit der Zeit Karls des Großen gaben sich Juden den Beinamen Baal Schem und begründeten damit eine mitteleuropäische Tradition, die den Beruf des jüdischen Wunderheilers aus Italien nach Deutschland brachte.

"Am Anfang waren das einzelne Wundermänner, die Zauberkunststückchen machten. Es gab dann eine Phase im13. Jahrhundert, als der Baal Schem theologisch sehr stark aufgeladen wurde. Das war die Zeit der sogenannten Chasidut Aschkenas. Das war eine Frömmigkeitsbewegung, die sehr asketisch und von der Kabbala geprägt war. Dort galt es als besonders hohes Ziel, dass man die Gottesnamen aus der Bibel, die Engelnamen aus der Bibel und überhaupt den ganzen biblischen Text versteht als Namen Gottes. Und das Erstaunliche ist nun, dass wir mitten im 19. Jahrhundert, mitten im aufgeklärten Deutschland, einen solchen Baal Schem finden, der mit solchen magischen Mitteln in ganz Europa Wunderkuren verteilt."

Neben Gottesnamen, Bibeltexten und Gebeten heilte der Michelstädter Baal Schem auch mit Amuletten oder Ringen. Auch die Goldene Joich, Hühnersuppe, soll er verordnet haben, während er auf Kräuterkuren und Salben bewusst verzichtete. Da hat er seine Patienten lieber zum Arzt geschickt. Das jedenfalls geht aus den Geschäftsbüchern und Merkzetteln des Wunderrabbis hervor.

"Das heißt, er war schon so aufgeklärt, dass er gleichzeitig die Wirkkraft der modernen Medizin der damaligen Zeit anerkannt hat. Daraus kann man schließen, dass er sich beschränkt hat auf seine spirituellen Heilmethoden, die ihm auch ganz erkleckliche Einträge verschafften."

Mit einem Bein also noch im Mittelalter, im Regal jedoch Bücher von Kant, Mendelssohn und Zunz, war Seckel Löb Wormser ein Phänomen mit Modellcharakter. Sein Leben als gelungener Balanceakt zwischen Orthodoxie, Magie und Aufklärung bot daher reichlich Stoff zur Legendenbildung. Vor allem am Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war die Zeit, als Martin Buber die chassidischen Legenden und Chaim Bloch die Erzählung vom Prager Golem verfassten. So ging es auch in den Legenden des Michelstädters vor allem darum, der jüdischen Öffentlichkeit positive Aspekte ihrer Geschichte zu präsentieren. Dass diese manchmal mit den historischen Fakten kollidieren, erklärt Grözinger so:

"In diesem Zusammenhang muss auch die Legende des Michelstädters gesehen werden, wo der Autor mehrfach darauf hinweist, auch in seiner eigenen legendarischen Beschreibung, dass es zwischen dem, was der Volksmund über den Michelstädter erzählt und dem, was man als orthodoxer Rabbiner zu erzählen hat, eine gewisse Kluft gibt. Er sagt also an einer Stelle seiner Legende, Seckel Löb Wormser aus Michelstadt hat sich selber nie als Baal Schem bezeichnet. Das waren die einfachen Leute, die das getan haben. Denn er hat ja nur mit Gebeten geheilt. Die historischen Quellen sagen etwas anderes. Aber daran sieht man, dass man die Erzählungsliteratur und die Pflege dieser Geschichte eben im eigenen Sinne und mit eigenen Interessen verfolgt hat."

Das ist mitunter heute noch so. Inzwischen geben orthodoxe Verlage sogar Biografien über den Michelstädter Baal Schem in Auftrag. An seinem Grab versammeln sich jährlich Hunderte ultraorthodoxer Beter aus aller Welt zu religiösen Happenings – und dennoch:

"Er hat Tagebücher hinterlassen, aus denen hervorgeht, was er an Literatur gelesen hat und wie er sich mit der deutschen Philosophie des 19., des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, wie er sich mit der Pädagogik dieser Zeit auseinandergesetzt und dafür Lern- und Lehrprogramme entwickelt hat, die er dann auch in seiner eigenen Jeschiwa, die er in Michelstadt eingerichtet hatte, wohl eingesetzt hat. Mit dieser Seite des intellektuellen Baal Schem, des aufklärerischen Baal Schem, möchten viele Personen, die da hinfahren, eigentlich nichts zu tun haben."

Ein Wunderrabbi mit Potenzial also, den Karl Erich Grözinger da porträtiert. Ein anregendes Buch – auch für aufgeklärte orthodoxe Juden von heute.