Deutschland überleben

Von Peter Zudeick |
Darauf hätte man ja auch selbst kommen können. Und früher. Jetzt werden "Überlebenshandbücher" für Deutschland wie Giftpilze aus modrigem Boden schießen, und wir haben’s verpasst. Der deutsche Beitrag wird nur noch darin bestehen, den Freunden aus aller Welt zu sagen, wohin sie nicht gehen sollen. Damit sie überhaupt lebend wieder rauskommen. Irgendwie dumm gelaufen.
Zuerst laden wir die ganze Welt ein, mit weit geöffneten Armen, und dann müssen wir an allen möglichen Stellen Warntafeln aufstellen: Sie betreten jetzt den Sektor Gewalt und Rassismus. Das ist doch blöd. Zumal man eigentlich draufschreiben müsste: Freunde mit nicht un-bedingt kalkweißer Hautfarbe sollten diesen Sektor lieber meiden. Weil eine bestimmte Sorte von Fußball-Fans sich in Fascho-Regionen ja ausgesprochen wohl fühlen dürfte.

Während wir also mit so was beschäftigt sind, bleiben die lustigen Sachen irgendwelchen New Yorker oder Londoner Autoren überlassen. Von wegen: "Lehnen Sie sich nie gegen ein fremdes Auto – Autos sind in Deutschland heilig." So was schreibt ausgerechnet ein Ami. Von wegen: "Deutsche ziehen sich selten wie Deutsche an", bloß weil wir nicht alle und nicht immer in Lederhosen rumlaufen. Oder: "Wenn Sie die derzeitige US-Politik zu entschieden verteidigen, riskieren Sie Streit." Ja ja, ganz schnurrig so weit, aber das kann doch nicht alles gewesen sein.

Zunächst mal müsste man britische Freunde, nicht nur die Glatzköpfe, schonend darauf vorbereiten, dass Adolf Hitler schon eine Weile tot ist, dass nicht jeder Deutsche im Panzer durch die Gegend fährt und der Stechschritt auch in der ehemaligen DDR seit geraumer Zeit abgeschafft ist. Damit der Schock nicht allzu groß ist, sollte man den Briten rechtzeitig vor der Abreise auch mitteilen, dass Nacktfotos von Volksvertretern und Regierungsmitgliedern in der deutschen Presse eher unüblich sind. Der Freund von der Insel müsste einschlägige Lektüre also mitbringen, wenn er nicht darben will.

Was die Nahrungsaufnahme betrifft, wäre es wohl ratsam, die in lederartige Pellen gepresste Mehlpampe, die der Brite "sausage" nennt, an ausgewählten Verpflegungsstationen feilzuhalten. Der Brite an sich ist zwar freundlich und zurückhaltend, aber wenn er seiner Grundnahrungsmittel entraten müsste, könnte es zu harschen Enttäuschungsreaktionen kommen. Das gilt auch für den Bierausschank: Zumindest in den Mittel- und Großstädten sollte man für eine ausreichende Versorgung mit lauwarmem und garantiert schaumlosem Bier sorgen. Sonst wird auch der gemäßigte Brite leicht mal ungemütlich.

Der Amerikaner hat es da leichter. In Fußballstadien und deren Umfeld darf nur gelbliche Suppe ausgeschenkt werden, die in den USA zusammengerührt und unter dem Namen "Budweiser" straflos als Bier verkauft werden darf. Da fühlt der Ami sich gleich daheim. Dass der Deutsche nicht immer und überall mit einem Eisbein unter dem einen und einem Topf Sauerkraut unter dem anderen Arm herumläuft, daran wird der US-Fußballtourist sich schnell gewöhnen. Erst recht in Hamburg, wo die US-Mannschaft ihr Quartier hat. Dafür werden die sich dann an Labskaus gewöhnen müssen, und das ist nun freilich eine Herausforderung, an der schon ganz andere gescheitert sind. Mal ganz nebenbei: Ist eigentlich garantiert, dass die Freunde aus Amiland tatsächlich "Soccer" sehen wollen und nicht "Football"? Es könnte sonst zu Tumulten kommen, wenn sich da gar keine gepanzerten Roboter um ein eiförmiges Wurfgerät kloppen. Das sollte in einem Ratgeber für WM-Touristen unbedingt klargestellt werden.

Der wirklich dringend von einem Deutschen geschrieben werden müsste. Denn wenn ein Ami den Amis Deutschland erklärt, schleichen sich doch merkwürdige Fehler ein. "Rufen Sie niemanden zwischen 20 und 20 Uhr 15 an, dann läuft die Hauptnachrichtensendung im Fernsehen", steht in einem dieser Überlebenshandbücher. Das zeugt von Null Ahnung von deutschen Fernsehgewohnheiten. Während der "Tagesschau" kann jeder jeden anrufen. Aber auf keinen Fall sonntags zwischen 18 Uhr 50 und 19 Uhr 20. Dann läuft die "Lindenstraße". Wer da stört, lebt nicht lange.

Ja, und sonst? Den Franzosen sollte man dringend darauf hinweisen, dass es in Deutschland nicht zur Folklore gehört, Frösche zu essen. Man benötigt dazu ausgewählte Orte, üblicherweise französische Restaurants. Gegen das Absingen der Marseillaise ist nichts einzuwenden, solange es beim französischen Originaltext bleibt. Der Spanier muss sich wie der Italiener darauf einstellen, dass in Deutschland auch zwischen zehn und sechzehn Uhr das Leben weitergeht und Restaurants abends nicht erst um 21 Uhr 30 aufmachen. Und alle, alle müssen dringend darauf vorbereitet werden, was passiert, wenn Deutschland im Viertelfinale ausscheidet. Dann sind die Freunde überhaupt keine Freunde mehr, sondern lästige Gäste, deren Abreise man mürrisch herbeiwünscht. Und was passiert, wenn die Deutschen die Vorrunde nicht überleben, das wollen wir uns lieber gar nicht vorstellen. Dann wird’s schwierig, Deutschland zu überleben. Zumindest mental.

Dr. Peter Zudeick, langjähriger Korrespondent in Bonn und jetzt in Berlin, Buchveröffentlichungen u.a. "Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch - Leben und Werk", "Alternative Schulen" und "Saba - Bilanz einer Aufgabe".