Deutschland - Hochburg der "Political Correctness’"?

Von Hans Ulrich Gumbrecht · 23.06.2009
Was einem vor allem auf die Nerven ging - und manchmal auch wirklich an die Substanz - vor zehn oder fünfzehn Jahren, als der Wind der "Political Correctness" besonders an den amerikanischen Universitäten seinen schneidenden Höhepunkt erreicht hatte, steckte in dem zunächst ziemlich unschuldig wirkenden Wort "korrekt": nämlich die unproblematisch daherkommende Überzeugung, es gäbe für alle Variationsbreiten von Verhaltensformen und Werten gewisse Hierarchien, welche mit unstrittiger Gewissheit von "jedenfalls richtig” zu "jedenfalls falsch” führten und mithin die Verpflichtung enthielten, das "jedenfalls Richtige” verbindlich zu machen und alles andere zu verbieten.
Dass "Political Correctness” ihre Grundlagen mit hemdsärmlig unproblematischer Selbstgewissheit als "allen normalen Menschen unmittelbar einsichtig” präsentierte und auch feierte, war deshalb folgenreich, weil so die nie zur Argumentation verpflichtete Direktheit gerechtfertigt wurde, mit der jegliche "nicht normalen” Abweichler bestraft, ausgeschlossen und fast immer definitiv zum Schweigen gebracht wurden.

Dieser Schärfe der Exklusionsrituale im politisch korrekten Klima entsprach eine schwüle Klebrigkeit auf der Seite von Karrieremanagement und Selbstkanonisierung. Zu Ansehen und zu sich als "moralisch” verstehender Führerschaft brachte man es nicht allein durch militante Strenge und "Wachsamkeit” - "vigilance,” ein Wort aus der Tradition des aggressiven weißen Rassismus, gehörte tatsächlich zum Diskurs der "Political Correctness” - zu Ansehen verhalf vor allem eine bis in schwindelerregende Zonen ausgebildete Sensibilität, welche noch auf die mildesten und ambivalentesten Untertöne des Nicht-Korrekten mit Schüttelfrost-artigen Anfällen von Betroffenheit und mit einem passiv-aggressiven Verweis auf eben gerissene Wunden reagierte. Er erinnerte an die katholischen Andachts-Bilder, wo der Zeigefinger Jesu auf den Schnitt an der linken Seite, über seinem Herzen gerichtet ist. Wer jeweils mehr und größere Moral-Wunden für sich in Anspruch nehmen konnte, der führte bald in der Tabelle des charismatisch-politischen Anspruchs.

Nun ließe sich diese Beschreibung ohne viel Abstriche auch auf die Welt von Robespierre vier oder fünf Jahre nach dem Beginn der französischen Revolution oder auf die Zeit Trotzkijs in der frühen Sowjetunion anwenden, und es hat wohl überhaupt nie eine folgenreiche Veränderung von sozialen Verhaltensformen und Leitwerten ohne eine Phase der strengen "Political Correctness” mit all ihren heiliggesprochenen Märtyrern gegeben. Denn exzessive Energie-Entfaltung scheint unerlässlich zur Durchsetzung des jeweils Neuen zu sein, aber auch zum Ausspekulieren seiner Übertreibungen und Grenzen. Ein gelassener Blick auf unsere jüngste revolutionäre Vergangenheit wird deshalb jetzt, im Moment des Abebbens ihrer terroristischen Kraft, statt schadenfroh-hämische Nasen zu drehen, eher fragen wollen, was sie denn gewesen sein und gebracht haben könnte. Sie war, denke ich, vor allem das inzwischen längst irreversibel gewordene Brechen der familien-patriarchalischen Normen im Privatleben. Wenn heute nicht nur sektiererische Links-Philosophen davon ausgehen, dass Achtzehnjährige ausnahmslos "sexuell aktiv,” alle Frauen mittleren Alters berufstätig, Schwule und Lesben umwerfend nett und ganz besonders gute Eltern ihrer adoptierten Kinder seien, dann liegt darin ein Nachhall von Exzessen der letzten sozialen Revolution. Mancherorts verbindet sich dieser Ton mit einem ebenso ernsten wie engen Tugend-Bewusstsein im Blick auf Trennmüll- und Emissions-Vorschriften. An ihr gutes Ende wird die "Political Correctness” unserer Revolution jedenfalls erst dann gelangt sein, wenn Schwulen-Paraden nicht mehr der Rede wert sind und selbst Öko-Autos gut aussehen dürfen.

Es mag in Deutschland, wo diese letzte Revolution – so wie die meisten anderen Revolutionen der modernen Geschichte – erst spät auf den Weg kam, noch einige Zeit dauern, bis der Abschwung der nationalspezifischen "Political Correctness” spürbar wird. Derzeit gibt es wohl kaum ein anderes Land, wo die Öffentlichkeit noch so selbstverständlich durchmoralisiert ist, dass ihre Vigilanz auf das Ausland überschießt. Zumal wir Amerikaner sind ja die beliebten Opfer neu-deutscher Moralfürsorge geworden. Deshalb zum Beispiel wollten uns die deutschen Intellektuellen keinesfalls die Wahl eines schwarzen Präsidenten zutrauen - und werfen nun ein, er sei ja "eigentlich Afrikaner und weiß”. Dass die Deutschen diesen Balken der "Political Correctness” im eigenen Auge nicht sehen können, bestätigt den Befund aufs überzeugendste. Doch in dem Maß, wie die Folgen der globalen Finanzkrise nun auch die Privatsphäre der deutschen Mittelklasse erreichen, wird sie sich wohl bald den unmittelbareren Herausforderungen im eigenen Leben zuwenden.

Hans Ulrich Gumbrecht zählt zu international renommiertesten deutschen Literaturwissenschaftlern. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in Deutschland, Spanien und Italien, lehrte dann an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen. Seit 1989 ist er Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford in Kalifornien.