Deutsches Exilarchiv

Schicksalssuche in Koffern

Das Exilarchiv in Frankfurt am Main sammelt auch Koffer der Exilanten
Das Exilarchiv in Frankfurt am Main sammelt auch Koffer der Exilanten und findet darin nicht selten überraschende Dokumente. © Deutschlandradio / Alexander Moritz
Von Alexander Moritz · 22.08.2018
Briefe, Tagebücher, Bücher: Viele Schriftsteller flohen während der NS-Zeit ins Exil und publizierten dort weiter. Schätze aus dieser Zeit zu finden und zu bewahren - das ist die Aufgabe des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt am Main.
Sylvia Asmus öffnet eine schwere Stahltür im Erdgeschoss der Nationalbibliothek. In diesem Magazin lagern die neu eingegangenen Bestände des Exilarchivs.
"Ich bin immer aufgeregt, wenn neue Dinge kommen. Weil viele Dinge einfach auch Erfahrungen transportieren, zu denen wir bis jetzt noch kein Material haben. Denen kann man bestimmte Familiengeschichten oder auch individuelle Geschichten ablesen."
Die Leiterin des Exilarchivs ist gespannt. Vor wenigen Tagen sind zwei Koffer mit dem Nachlass des Schriftstellers und Journalisten Roberto Schopflocher aus Argentinien angekommen.
Manche Nachlässe füllen mehrere Regalreihen, der von Roberto Schopflocher ist überschaubarer: einige Ordner voll mit ausgedruckten Texten, ein handbeschriebenes Gedichtheft, eine von Schopflocher geschnitzte Druckplatte für einen Holzschnitt. Asmus kramt in einem Umschlag mit sorgsam beschrifteten Fotos.

Flucht aus der Heimat

"Es sind eben Bilder vor dem Exil, 1932, 34, 36. Und dann eben: ‚Der erste Sonntag in Buenos Aires‘. Das sind eben auch interessante Beschriftungen. ‚In der neuen Heimat‘. Später hat er sich gefragt: Hat er überhaupt eine Heimat? Ist er entwurzelt, ist er heimatlos? Und hat eben gesagt: In der Heimatlosigkeit liegt seine Heimat."
Die deutsche Heimat mussten Schopflocher und seine Familie 1937 verlassen, weil sie Juden waren. Zu gefährlich war die Lage im nationalsozialistischen Deutschland geworden. Als 15-Jähriger kam Schopflocher nach Argentinien. Bis zu seinem Lebensende arbeitete er in Buenos Aires, schrieb auf Spanisch, später auch wieder auf Deutsch. Dieses literarische Erbe hat seine Witwe nun an das Exilarchiv übergeben.

"Es ist wirklich ganz frisch erst gekommen, wir müssen uns noch damit beschäftigen. Frau Schopflocher hat sich die Mühe gemacht, manches auch nochmal für uns zu beschreiben, solche Listen, damit wir wissen, was sie in diese beiden Koffer gepackt haben. Das haben wir sonst meistens nicht."
Manchmal können die Archivare vorab nur vermuten, was genau sich in den Nachlässen verbirgt. Das Exilarchiv bekommt sie von den Nachfahren der Exilanten oder kauft vielversprechende Bestände auf Auktionen und in Antiquariaten. Alle Objekte werden in einem Katalog registriert. Dann wird entschieden, welche Dokumente es wert sind, sie detaillierter zu erfassen.
Fotos aus dem Nachlass des Exilschriftstellers Roberto Schopflocher im Deutschen Exilarchiv Frankfurt: der 15-Jährige mit seinen Eltern nach der Ankunft in Argentinien
Fotos aus dem Nachlass des Exilschriftstellers Roberto Schopflocher im Deutschen Exilarchiv Frankfurt: der 15-Jährige mit seinen Eltern nach der Ankunft in Argentinien© Deutschlandradio / Alexander Moritz

Über 380.000 Objekte und Dokumente

Das Archiv sammelt alle Arten von Texten, die deutschsprachige Exilantinnen und Exilanten zwischen 1933 und 1950 im Exil veröffentlicht haben – möglichst vollständig. Dazu werden ausgewählte Nachlässe in die Sammlung aufgenommen: dazu gehören etwa Briefe, Tagebücher, Ausweise - selbst die Koffer, mit denen die Exilanten auf die Flucht gingen. Mittlerweile zählt das Exilarchiv über 380.000 erschlossene Objekte und Dokumente.
Archivleiterin Asmus geht durch einen langen Gang im dritten Untergeschoss der Nationalbibliothek. Mehrere riesige Lagerräume füllt die Sammlung aus.
In grauen Metallregalen stapeln sich zahllose Archivkartons. Hier liegen Briefe von Lion Feuchtwanger, Manuskripte von Leo Perutz und Lily Körber und Kindheitsdokumente von Stefanie Zweig. In jedem Karton steckt die Geschichte eines Lebens.
Einer der ersten, der diese Geschichten zu sehen bekommt, ist Christian Herbert. Der Bibliothekar steht an einem Schreibtisch vor den Regalreihen. Im fahlen Licht der Neonröhren sichtet er gerade neue Dokumente aus dem Nachlass des Exilforschers Ernst Loewy.
"Man gewinnt ja einen Einblick in das Leben einer Person, den man sonst eigentlich überhaupt nicht hätte. Zum Beispiel bei dem ersten Nachlass, den ich erschlossen hatte, war das für mich so ein Aha-Effekt zu sehen: Es gab so ein Konvolut von Ausweisen und man hat gesehen: Die Person wird eigentlich immer älter auf diesen Passfotos. Und das ist schon irgendwie auch ein emotionaler Eindruck."
Manchmal muss der Archivar der Versuchung wiederstehen, sich an den Dokumenten festzulesen. Schließlich warten noch tausende Seiten darauf, erschlossen zu werden. Und die Sammlung wächst immer weiter.
"Im Falle von Leo Perutz war das so. Der Nachlass liegt schon lange hier. Und vor Kurzem hat die Enkelin noch ein ganzes Konvolut handschriftlicher Briefe von Leo Perutz an seinen Bruder geschickt. Das passiert ganz häufig, dass die Sachen einfach nochmal ergänzt werden."
Auch bei den Büchern ist kein Ende absehbar: Wie viele Titel im Exil überhaupt veröffentlicht wurden, das weiß niemand so genau. Immer wieder tauchen neue, bisher unbekannte Werke auf.

Archivsammlung entstand bereits in der Nachkriegszeit

Der Grundstock für die Archivsammlung wurde schon kurz nach Kriegsende gelegt. Doch bis zur ersten öffentlichen Exilausstellung dauerte es noch bis 1965. In der Nachkriegszeit war das Interesse für die Exilliteratur eher gering. Manchen galten die Exilanten gar als "Landesverräter".
Dass sich der Blick heute grundlegend geändert hat, ist auch dem Exilarchiv zu verdanken. Für Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt ist das Archiv eine wichtige Anlaufstelle.
Seit März 2018 gibt es neben dem Eingang der Nationalbibliothek auch eine kleine Dauerausstellung. Ausgewählte Stücke aus dem Exilarchiv vermitteln eindrucksvoll Flucht- und Exilgeschichten.
In einer Vitrine liegt eine unscheinbare Zugfahrkarte: 23. April 1933, Köln-Aachen, Hin- und Rückfahrt. Mit ihr fuhr der Publizist Walter Zadek in die Nähe der Grenzstadt Aachen – um dort über die grüne Grenze in die benachbarten Niederlande zu fliehen. "Fahrkarte in die Freiheit", hat Zadek auf die Rückseite notiert. Die Rückfahrkarte war nur Tarnung, erklärt Archivleiterin Asmus.
"Das ist das Anliegen der Ausstellung: zu zeigen, es gibt nicht das Exil. Es gibt viele Wege individuelle Wege und Erfahrungen und disparate Objekte, die für das Exil stehen. Und das wollten wir zeigen in der Ausstellung."
Archivarbeit ist Fleißarbeit: sammeln, sichten, katalogisieren. Damit die Geschichte des Exils nicht vergessen wird.
Für Archivleiterin Sylvia Asmus eine Lebensaufgabe.
"Ich mache es häufig so, dass ich einfach ins Magazin gehe und mir bestimmte Dinge ansehe, weil einem dann sofort klar macht, wie wichtig das ist."
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