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Schauspiel Frankfurt
Jürgen Kruse inszeniert "Leonce und Lena"

Von Alexander Kohlmann | 17.10.2015
    Ganz zum Schluss müssen Leonce und Lena, eingewickelt in Frischhaltefolie, ihre Vermählung über sich ergehen lassen. Um sie herum sagen Menschen mit Fischköpfen seltsame Dinge. Und die ganze Bühne erscheint auf einmal wie ein riesiges Aquarium. Eines, in dem die Geräusche der Welt nur noch dumpf zu hören sind - und jeder wegen des Wassers nur noch langsam seine vorbestimmten Kreise ziehen kann. Dabei hatte das Leben so vielversprechend begonnen.
    Prinz Leonce ist in Jürgen Kruses Inszenierung kein bleicher Jüngling, sondern Isaak Dentler spielt den Prinzen als einen bereits etwas fülligen Lebemann mit charismatischem Vollbart. Der leuchtet in einer dieser typisch-kruseschen Rumpelkammern mit einem Fernrohr in das Publikum hinein. Um ihn herum stehen leere Flaschen, die Reste des letzten Gelages. Globen hängen von der Decke herunter, eine Jukebox leuchtet rot-verführerisch.
    Im Hinterzimmer vegetiert der Vater. König Peter vom Reiche Popo ist nur als Schatten hinter dem Fenster zu erkennen, wie er sich von gleich mehreren Damen wie ein Baby in weiße Stoffbahnen wickeln lässt. "Demenz, Demenz", rufen die Ladys, während der König wirr vor sich hinbrabbelt, dass er sein Volk vergessen habe - und nicht nur das.
    "Habe ich nicht den Beschluss gefasst, dass meine königliche Majestät sich an diesem Tage freuen und dass an ihm die Hochzeit gefeiert werden sollte?"
    Nein, von diesem Vater ist für Leonce keine Orientierung zu erwarten, der König liefert nur das Geld für ein Leben im materiellen Überfluss. Und in größtmöglicher Langeweile. Leonce hört Rocksongs, betrinkt sich und veranstaltet zum Spaß Fechtduelle mit Valerio. Oliver Kraushaar spielt den Prinzen-Freund als mephistophelischen Verführer ganz in blau, mit Zylinder. Ein Spielgefährte, der doch mehr vom Leben weiß als der dekadente Königssohn - und ganz bestimmt sein eigenes Süppchen kocht.
    Das Gelage könnte ewig so weitergehen, wenn Leonce nicht in Prinzessin Lena sein Gegenbild finden würde. Eine heiße Braut, ganz in schwarz. Jürgen Kruse hat die Schauspielerin Linda Poppel in eine dieser geheimnisvollen Frauen verwandelt, die so typisch für seine Inszenierungen sind. Eine, hinter deren schiefem Lachen sich eine ungezügelte Lebenslust verbirgt. Und eine, die sich genau wie Leonce in diesem Zauberreich buchstäblich zu Tode langweilt.
    - "Wer spricht da?"
    - "Lass mich dein Todesengel sein. Mich gleichs einen Schwingen auf deine Augen senken. Du schöne Leiche, du ruhst so lieblich auf dem schwarzen Grabtuch der Nacht."
    Schon als sich die Königskinder unter einem Bettlaken wie im Traum näherkommen, ist die gemeinsame Todessehnsucht unverkennbar. Von irgendwoher kommt blutrote Farbe, während sie sich küssen. Das Laken ist rot, während sie abgeführt werden. Es ist ein Flirt mit dem Jenseits, in einer Welt, in der der fortlaufende Exzess ab einem gewissen Alter auch keine Erfüllung mehr verspricht. Trotz Jukebox und Rock'n'Roll, die Party ist irgendwann vorbei - und das Leben klopft an die Tür.
    So gerät dieser Abend auch zu einem Kommentar zur der mittlerweile, rund 30 Jahre währenden Kruse-Bühnenparty. Als junger Mann hatte dieser Regisseur einst an der Berliner Schaubühne damit begonnen, das Lebensgefühl von Rock-Songs mit den mehrdimensionalen Texten William Shakespeares zusammen zu bringen. Und in den Kalauern der Pop-Barden und den Versen des elisabethanischen Dichters entdeckte er immer wieder überraschende Verbindungen. Über die Jahre kreierte Kruse so eine Welt der allumfassenden Bedeutungskorrespondenzen, in die eine Heerschar von Kruse-Jüngern immer wieder gerne zurückkehrte - und weite Reisen auf sich nahm -, um sich erneut dem altbekannten Wahnsinn auszusetzen.
    Und jetzt, alles in die Jahre gekommen? Im Gegenteil, der Abend ist so stringent und konzentriert wie lange kein Kruse-Abend zuvor.
    Ausgerechnet Jürgen Kruse verzichtet bei "Leonce und Lena" auf ein Feuerwerk des Kalauers bespickten Klamauks, stattdessen konzentriert er sich ganz auf den zutiefst melancholischen Kern des Büchner-Textes.
    Irgendwann ist der Traum vom lebenslangen Rock'n Roll ausgeträumt - dann liegt man doch wie alle anderen, frisch eingerollt, bei den Fischen. Und dann? Eine Dame legt der wilden Prinzessin für die Hochzeit ein weißes Gewand über die Schulter und verschnürt es - bis es wie eine Zwangsjacke jede freie Bewegung verhindert. Da steht sie nun, Prinzessin Lena. Dem Tod entkommen - und im Leben gefangen.