Deutscher Kinderschutzbund: Höhere Hartz-IV-Regelsätze reichen nicht

Heinz Hilgers im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 09.02.2010
Eine Anhebung der Regelsätze für Kinder sei nicht genug, um Kinderarmut in Deutschland entgegen zu wirken, erklärte der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) vor dem Karlsruher Urteil zu den Hartz-IV-Sätzen.
Jan-Christoph Kitzler: Wie viel Geld braucht man zum Leben? Über diese Frage kann man stundenlang diskutieren und viele werden der Meinung sein, 359 Euro im Monat, die reichen bei Weitem nicht. 359 Euro, das ist der Hartz-IV-Regelsatz, den zurzeit etwa 4,7 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, wie es so schön heißt, in Deutschland bekommen. 1,7 Millionen Kinder bekommen je nachdem wie alt sie sind weniger als das. Doch ist das gerecht? Brauchen Kinder nicht mehr Geld, zum Beispiel für Bücher, für den Sportverein oder für Klassenfahrten? Diese Frage beantworten heute die Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts.
Darüber spreche ich jetzt mit Heinz Hilgers, er ist Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Guten Morgen!

Heinz Hilgers: Ja, guten Morgen!

Kitzler: Herr Hilgers, Sie sind schon in Karlsruhe und wollen sich den Richterspruch vor Ort anhören. Auf was für ein Urteil hoffen Sie denn?

Hilgers: Ich hoffe schon, dass die Richter der deutschen Politik ins Stammbuch schreiben, dass sie sich wenigstens die Mühe machen muss, auszurechnen, was braucht denn ein Kind wirklich, und zwar detailliert vom Schulbedarf bis zum außerschulischen Bedarf, von den Fahrkosten zur Schule und zu Freunden bis hin zu einer wirklich auch noch vertretbaren Kleidung, und dass man das nicht einfach mit%en von Erwachsenen berechnen kann. Das ist ja auch unsinnig. Sehen Sie, das ist ja eine der Krux der Hartz-Reformen, dass man damals hingegangen ist und hat die einmaligen Beihilfen, die an Kinder gezahlt wurden bei der alten Sozialhilfe, für Schulbedarf, für Bekleidung und so weiter, einfach pauschaliert, und zwar nicht nach dem Maßstab der Kinder, sondern insgesamt, und hat dann da auch 60 Prozent von genommen. Und dass das unsinnig ist weiß doch jeder, der im praktischen Leben steht. Sehen Sie …

Kitzler: Manche sagen ja, Kinder bräuchten vielleicht nicht weniger als Erwachsene, sondern möglicherweise sogar mehr. Wie sehen Sie das denn?

Hilgers: In Teilbereichen mit Sicherheit. Wenn für Bildung kein Cent da drin ist, im Erwachsenenregelsatz, dann sind 60 Prozent von null gleich null und 70 Prozent von null ist null und 80 Prozent von null ist auch null. Das wird ja nicht mehr. Und deswegen ist das schon mal sehr widersinnig. Aber auch, was die Bekleidung angeht. Also ich nehme mal das Beispiel von meinem Wintermantel, wegen dem meine Frau mich immer beschimpft. Das liegt nicht daran, dass wir kein Geld haben, sondern ich bin so ein unleidlicher Käufer. Da sagt die immer, der ist schon zehn Jahre alt, willst du dir nicht mal endlich einen neuen kaufen. Das ist bei nem Kind … das geht ja gar nicht. Sie brauchen da ja zwei, drei, vier Anoraks im Jahr, weil die Kinder schon wieder gewachsen sind.

Kitzler: Rund 2,4 Millionen Kinder sind nach Schätzungen in Deutschland von Armut betroffen, aber ist denen denn ausschließlich mit höheren Regelsätzen geholfen?

Hilgers: Nein! Das reicht bei Weitem nicht. Wir brauchen eine Strategie, in der Bund, Länder und Gemeinden endlich gemeinsam die Kinderarmut bekämpfen. Dazu gehört neben gerechten Regelsätzen natürlich auch verbesserte Bildungschancen für arme Kinder in Deutschland – da sind vor allen Dingen die Bundesländer gefragt – und es geht auch um persönliche Hilfen. Gerade Menschen und Familien und Haushalte, in denen Menschen leben, die deprimiert sind, die ihre Antriebskräfte verloren haben, denen reicht nicht Geld alleine, sondern da muss es uns gelingen, ihnen so persönliche Hilfe mit Wertschätzung entgegenzubringen, dass sie als Hilfe zur Selbsthilfe zumindest dazu beiträgt, dass die Kinder eine Generation später nicht mehr abhängig sind von den Leistungen des Staates.

Kitzler: Bleiben wir noch mal kurz beim Geld. Es gibt ja viele, die sagen, wenn man den Familien mehr Geld gibt, dann kommt das nicht unbedingt den Kindern zugute, weil das Geld für alles Mögliche ausgegeben wird, aber nicht für die Kinder. Ist das eine Gefahr?

Hilgers: Das ist ja zu 90 Prozent falsch. Zu 90 Prozent ist es so, dass sich die Eltern das letzte vom Mund absparen, auch die armen Eltern, damit es ihren Kindern mal besser geht. Aber 10 Prozent oder knapp unter 10 Prozent, in denen das nicht der Fall ist, ist natürlich zu viel.

Kitzler: Würde man denen mit Gutscheinen helfen können zum Beispiel? Das war ja eine Debatte, also dass man das Geld nicht direkt an die Familien gibt, sondern in Form von Gutscheinen zum Beispiel für Musikschule, für Vereine austeilt.

Hilgers: Das wird nur in ganz wenigen Einzelfällen nötig sein. Sehen Sie, wir haben ja eine Situation, in der der Staat früher auch die entsprechenden Mittel hatte. Wir hatten ja einmalige Beihilfen, das habe ich schon erwähnt, von der Geburt bis zur Einschulung und im Laufe des Schulalltages für die Bekleidung, und die frühere Sozialhilfe, die allgemeinen sozialen Dienste haben ganz genau gewusst, wo es dann mal nötig ist, einen Gutschein statt Geld zu geben, und wo es mal nötig ist, hinzugehen und zu sagen, da gehe ich jetzt mal mit dem Kind einkaufen, und das haben die auch gemacht. Das ist alles erst durch die Hartz-Reformen kaputt gemacht worden.

Kitzler: Der Mindestunterhalt, der zum Beispiel Scheidungskindern in Deutschland zusteht, ist um einiges höher als die Hartz-IV-Sätze für Kinder. Leben denn Kinder in Deutschland in einem Zwei-Klassen-System?

Hilgers: In einem Viel-Klassen-System. Es ist ja auch so, dass durch die Kinderfreibeträge, die gerade erst wieder erhöht worden sind, denen, die ganz viel verdienen, ohnehin ein Kindergeld von 260 Euro zusteht, und zwar dadurch, dass 42 Prozent von den über 7.000 Euro Kinderfreibetrag geteilt durch zwölf Monate schon diesen Betrag ausmachen als Steuerersparnis, und wenn die dann auch noch ihr Kind betreuen lassen, können sie noch mal 4.000 Euro Freibetrag absetzen, und wenn sie es in eine Privatschule tun und zahlen Schulgeld, 5.000 Euro absetzen. Das bedeutet, die können im Ergebnis fast 500 Euro vom Staat an Steuerersparnis bekommen, mit Baukindergeld, wenn sie bauen, dann noch mal 800 Euro Nettoertrag im Jahr dazu. Also dem Staat sind die Kinder schon in Deutschland sehr viel unterschiedlich wert. Es gibt Kinder, die sind ihm 500 Euro und mehr wert, und es gibt halt Kinder, die sind ihm nur die Hartz-IV-Sätze wert.

Kitzler: Wenn das Bundesverfassungsgericht in Ihrem Sinne entscheidet, dann muss die Politik nachbessern. Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, dass sie auch die richtigen Reformen auf den Weg bringt?

Hilgers: Also die richtige Reform, das wäre eine allgemeine Kindergrundsicherung für alle Kinder und da liegen ganz viele Vorschläge auf dem Tisch, von der Caritas, vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, vom Kinderschutzbund, vom Aktionsbündnis für eine Kindergrundsicherung, und damit sollte die Politik sich auseinandersetzen. Es geht nämlich nicht nur um die Hartz-IV-Kinder; es gibt mittlerweile so viele Kinder in unserem Land, die leben bei Familien, die ganz knapp über Hartz IV verdienen, und denen geht es manchmal genauso schlecht wie auch den Hartz-IV-Empfängern. Auch die müssen wir im Blick haben. Und da ist einfach die Kindergrundsicherung, die wir dann besteuern sollten, damit starke Schultern mehr tragen als schwache, das heißt die also hohe Steuern zahlen, sollten davon 42 Prozent weniger kriegen, und die keine Steuern zahlen müssen, weil sie nur Durchschnittsverdiener sind, sollten den vollen Betrag kriegen. Und da sage ich, dann hätten wir ein gerechtes System. Es gibt kein Land auf der Welt, das den Kindern reicher Familien mehr gibt als den armen. Das ist nur in Deutschland so. Alle anderen machen das umgekehrt.

Kitzler: Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, über Hartz IV und den Kampf gegen die Kinderarmut. Vielen Dank und einen schönen Tag.