Deutscher Buchpreis für Bodo Kirchhoff

"Auszeichnung für mein literarisches Schaffen"

Der Autor Bodo Kirchhoff nach dem Gewinn des Deutschen Buchpreises 2016
Der Schriftsteller Bodo Kirchhoff: "Es muss eine feinsinnige oder treffliche Sprache gefunden werden." © dpa / picture alliance / Arne Dedert
Moderation: Gabi Wuttke · 17.10.2016
Mit dem Deutschen Buchpreis für seinen Roman "Widerfahrnis" sieht der Schriftsteller Bodo Kirchhoff auch sein Gesamtwerk gewürdigt. Es gehe ihm darum, da, wo Sprache unzulänglich sei, eine feinsinnige und treffende Sprache zu finden, sagt er im Deutschlandradio Kultur.
"Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?"
Das ist der erste Satz von Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis" – und er reiht sich ein in die Geschichte der Gattung Novelle an sich.
Der Satz sei ihm eingefallen, als er in Frankfurt von seiner Lebens- in seine Arbeitswohnung gegangen sei, erzählt Buchpreis-Träger Bodo Kirchhof im Deutschlandradio Kultur.

Spontan im Auto nach Italien

Gesprochen wird er in der dritten Person. Hinter dieser verbirgt sich ein typischer Kirchhoff-Held, ein einsamer Wolf, ausgestattet mit männlicher Melancholie, einem verkarsteten Herzen und einem unauslöschlichen Rest an erotischer Neugierde.
Eine nur wenig jüngere Frau überrumpelt den eingeschworenen Einzelgänger, der sich gerade mit einem Glas Wein, Zigaretten und einem offenkundig selbst verlegten Buch einer gewissen Ines Wolken auf einen langen Abend eingestellt hat.
Die beiden reisen spontan im Auto nach Italien. Und dort widerfahren ihnen Dinge, die sie tief im Inneren verändern.
"Schon dieses Wort, dieser Titel 'Widerfahrnis' deutet ja an, dass einem etwas zustößt, ein tiefgreifendes (… ) spirituelles Ereignis, das einen grundlegend verändert, und das kann kein Prozess sein, der sich über Monate und Jahre erstreckt, sondern in einem kurzen Zeitraum", so Kirchhoff.
Ein Flüchtlingsmädchen taucht auf, später eine afrikanische Familie, und es kommt zu einer unerhörten Wendung, wie es die Genrebezeichnung schon ahnen lässt.

"Zurückgeworfen auf unser eigenes Kleinsein"

Worum geht es Kirchhoff mit seiner Novelle?
Es gehe eigentlich, wie er sagt, um den Moment, "wo wir merken, dass wir nicht so gut sind, wie wir eigentlich sein wollen, dass wir nicht so lieben können, wie wir uns das vorstellen, dass wir in dem Moment auf unser eigenes Kleinsein zurückgeworfen werden. Und in diesem Zurückgeworfensein steckt natürlich auch eine gewisse Verlorenheit, gleichzeitig aber auch eine Chance, weil man von diesem tatsächlichen Zustand, diesem tatsächlich kleinen Format, das man doch hat, dann vielleicht einen Schritt auf andere zumachen kann."
Kirchhoff lässt mit der Flüchtlingsthematik Gegenwartsgeschichte in sein Buch einfließen. Wie steht er selbst zum Thema Flucht?
Er sei eigentlich mit seinem Latein am Ende, sagt Kirchhoff. Er habe keine Antwort. Doch allein durch seine Sprache wolle er so etwas wie Versöhnung stiften:
"Ich bin als Bürger insofern etwas weiter, weil ich mit meiner Sprache noch vorsichtiger bin und überhaupt glaube, dass zu diesem ganzen Bereich (…) erst einmal eine feinsinnige oder treffliche Sprache gefunden werden muss. Ich habe ja in meinem Werk über viele Jahre versucht, Sprache und Sexualität zu versöhnen, auch da gibt es nur eine unzulängliche Sprache. Und ich glaube, auch in diesem Bereich ist die Sprache unzulänglich und der Schriftsteller hat vielleicht auch die Aufgabe, da etwas zu tun."

Den Preis sieht Kirchhoff als Bestätigung seiner literarischen Arbeit

Im Erfolg stecke immer auch "ein Stück Erbärmlichkeit oder Scham", kommentierte Kirchoff die Vergabe des Deutschen Buchpreises an ihn. Aber natürlich freue er sich:
"Ich nehme ihn als Auszeichnung für mein bisheriges literarisches Schaffen an und bin umso glücklicher, dass ich diesen Preis habe, weil es eine Bestätigung meiner literarischen Arbeit ist."

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Das hat ein gespanntes Publikum gestern Abend im Frankfurter Römer gehört:
O-Ton Heinrich Riedmüller: Den Deutschen Buchpreis 2016 für den Roman des Jahres verleiht der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung an Bodo Kirchhoff. ((Applaus und Jubel)) Bodo Kirchhoff erzählt vom unerhörten Aufbruch zweier Menschen, die kein Ziel, nur eine Richtung haben: den Süden. Es treibt sie die alte Sehnsucht nach der Liebe, nach Rotwein, Italien, einem späten Abenteuer. Kirchhoff gelingt es, in einem dichten Erzählgeflecht die großen Motive seines literarischen Werks auf kleinem Raum zu verhandeln.
Frenzel: Heinrich Riedmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, er hat ihn bekanntgegeben, den Preisträger des Deutschen Buchpreises 2016: Bodo Kirchhoff für seine Novelle "Widerfahrnis". Und dieses Buch beginnt mit folgendem Satz: "Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?"
Das also der erste Satz aus dem ausgezeichneten Werk. Meine Kollegin Gabi Wuttke sprach gestern Abend mit Bodo Kirchhoff und sie wollte als Erstes wissen, wie lange er an diesem ersten Satz geschraubt hat.
Bodo Kirchhoff: Gar nicht, sondern das Buch hatte lange einen ganz anderen Satz. Der hing damit zusammen, dass Reither die Rotweinflasche nicht aufbekam. Irgendwann habe ich begriffen, dass das nicht gut ist. Ich habe hier in Frankfurt zwei Wohnungen, bin von einer Wohnung in die andere gegangen, in meine Arbeitswohnung, und während ich ging, kam mir dieser Satz.
Gabi Wuttke: Das ist ja ein ziemlich verschachtelter Satz.
Kirchhoff: Na ja, so verschachtelt ist er auch nicht. Das ist für mich so ein sachtes Hineinkommen in eine Geschichte und nicht mit der Tür ins Haus fallen.

"Ein spirituelles Ereignis, das einen grundlegend verändert"

Wuttke: Die Geschichte handelt von zwei einsamen Silver-Agern, die ins schöne Italien aufbrechen und dort ein ebenso einsames Mädchen treffen, das Hilfe braucht, aber aus der frischen Liebe zweier alter Menschen wird zu dritt noch lange keine Familie. Um welche Verlorenheit geht es Ihnen vor allen Dingen?
Kirchhoff: Na ja, also, es ist gar nicht mal sicher, ob dieses Mädchen Hilfe braucht, es kann auch ein ganz abgebrühtes Mädchen sein, das lasse ich offen und auch für Reither, den Protagonisten, ist es offen. Ja, um welche Verlorenheit … Es geht eigentlich darum, dass wir in dem Moment, wo wir merken, dass wir nicht so gut sind, wie wir eigentlich sein wollen oder nicht so lieben können, wie wir uns das vorstellen, dass wir in dem Moment auf unser eigenes Kleinsein zurückgeworfen werden.
Und in diesem Zurückgeworfensein steckt natürlich auch eine gewisse Verlorenheit, gleichzeitig aber auch eine Chance, weil man von diesem tatsächlichen Zustand, von diesem tatsächlichen kleinen Format, das man doch hat, dann vielleicht einen Schritt auf andere zu machen kann.
Wuttke: Sie haben das kleine Format gewählt. Warum?
Kirchhoff: Weil das eine Geschichte ist, die in einem überschaubaren Zeitraum spielen sollte. Weil, schon dieses Wort, dieser Titel "Widerfahrnis" deutet ja an, dass einem etwas zustößt, ein tiefgreifendes – zumindest ist das in der Theorie so – spirituelles Ereignis, das einen grundlegend verändert, und das kann kein Prozess sein, der sich über Monate oder gar Jahre erstreckt, sondern einen kurzen Zeitraum. Und das ist sozusagen in diesem Zeitraum auf einer auch sehr horizontalen Ebene erzählt mit nur sehr wenigem vertikalem Zurückblicken in die Geschichte der Person.
Wuttke: Warum haben Sie sich biblischer Verweise und Bilder bedient? Was war Ihnen da jetzt besonders wichtig? Sie haben die Theologie angesprochen.
Kirchhoff: Ich habe, als ich zum ersten Mal vor etwa fünf Jahren dieses Wort gehört habe, "Widerfahrnis", dann es auch gleich in dem Zusammenhang, dem theologischen Zusammenhang gehört. Ich habe es aber herausgelöst aus diesem Zusammenhang eigentlich. Es gibt aber dann wieder – und das ist ein biblischer Verweis – am Ende, als Reither sich sehr verletzt hat und jemand auftaucht, der ihm die Hand näht, ein Nigerianer, und dann auch noch seine Frau und ein kleines Kind auftauchen, da haben wir plötzlich die Heilige Familie und Reither fühlt sehr stark fast einen Neid auf diesen Mann, der genau das um sich hat, was wirklich wichtig ist und was zählt.

Die heilige Familie als Hoffnungsbild

Wuttke: Sie sprechen jetzt von der Heiligen Familie, haben aber auch gesagt, Sie haben es bewusst offengelassen, was für ein Mädchen das eigentlich ist, ob es Hilfe braucht oder ob es vielleicht ganz anderen Interessen folgt. Dieses Bild der Dreieinigkeit aber, das ist ein unschuldiges für alle drei Personen.
Kirchhoff: Das ist richtig, das ist aber ein Hoffnungsbild. Natürlich hat Reither diese Hoffnung, sie könnten in dieser Dreifaltigkeit nach Hause fahren, Vater, Mutter, Kind oder Tochter. Und dieses Hoffnungsbild wird ja dann zerstört. Das geht so nicht auf. Das geht dann noch mal auf eine ganz andere Weise auf, mit der er nicht gerechnet hat. Für mich jedenfalls war es ein Weg, erzählend aufzublättern, wie schwierig das ist oder wie sehr wir uns auch selbst überschätzen, wenn wir glauben, wir könnten das Fremde in unser Leben aufnehmen und dann einfach so weiterleben. Es verändert uns einfach. Und so, wie sich wahrscheinlich auch dieses Land einfach verändern wird.
Wuttke: Die Jury des Buchpreises liest Ihr Buch als eine Flucht aus der Gegenwart, die sich wiederum mit der Gegenwartsgeschichte und der Geflüchtetenpolitik beschäftigt. Deshalb meine Frage: Wie pessimistisch sind Sie, Bodo Kirchhoff, als Bürger?
Kirchhoff: Das ist ganz schwer zu beantworten. Das Buch endet dort, wo wir im Moment alle sozusagen mit unserem Latein stehen oder am Ende sind, je nachdem. Und weiter gibt das Buch weder eine Antwort, weil ich die auch nicht habe. Ich bin als Bürger insofern etwas weiter, als ich mit meiner Sprache noch vorsichtiger bin und überhaupt glaube, dass es zu diesem ganzen Bereich erst mal eine, sagen wir mal, feinsinnige oder treffliche Sprache gefunden werden muss.
Ich habe ja in meinem Werk über viele Jahre versucht, Sprache und Sexualität zu versöhnen, auch da gibt es nur eine unzulängliche Sprache, und ich glaube, auch in diesem Bereich ist die Sprache unzulänglich. Und der Schriftsteller hat vielleicht auch die Aufgabe, da etwas zu tun.

"Im Erfolg steckt auch ein Stück Erbärmlichkeit"

Wuttke: Ein "makelloses Buch" hat die Jury Ihr Buch kommentiert. Nehmen Sie das als Kompliment so an?
Kirchhoff: Schwierig, ja. Ja und nein. Ich habe auch an einer Stelle mal geschrieben, dass im Makellosen oder im Perfekten oder im Erfolg, wenn Sie so wollen, immer auch ein Stück, ja, Erbärmlichkeit steckt oder ein Stück Scham steckt. Man verdient nie einen Erfolg zur Gänze, sondern es gibt eben viele andere oder sagen wir mal Umstände, die da mitverantwortlich sind. Und insofern, ich kann das bedingt annehmen, ja.
Wuttke: Und nehmen Sie den Deutschen Buchpreis auch als Auszeichnung für Ihr Lebenswerk an?
Kirchhoff: Lebenswerk, so alt bin ich, glaube ich, dennoch noch nicht. Aber ich nehme ihn als Auszeichnung für mein bisheriges literarisches Schaffen an und bin umso glücklicher, dass ich diesen Preis habe, weil es eine Bestätigung meiner literarischen Arbeit ist.
Frenzel: Der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016, Bodo Kirchhoff.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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