Deutsche Sitten

Warum wir keine "Bundesrüpelblik" sind

Ein junger Mann hebt seine geballte Faust
Gerade öffentliche Verkehrsmittel gelten vielen als Hort rücksichtslosen Benehmens © dpa / picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Joseph von Westphalen im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.02.2016
In Integrationskursen sollen Flüchtlinge lernen, wie sie sich hier zu benehmen haben. Doch wie benehmen wir uns eigentlich? Laut "SZ" schlecht: Eine "Bundesrüpelblik" sei Deutschland. Der Schriftsteller Joseph von Westphalen widerspricht: "Man bemerkt eigentlich Rücksichtslosigkeit wenig."
Eine Bundesrüpelblik sei Deutschland, hieß es am Dienstag in der "Süddeutschen Zeitung". "Ruppig, missgünstig und gleichgültig" gingen die Menschen hierzulande miteinander um und pflegten gleichzeitig einen eher lockeren Umgang mit Vorschriften und Gesetzen. Doch stimmt das überhaupt mit der Bundesrüpelblik?
Einfach mal nach der Uhrzeit fragen
Der Schriftsteller und Kolumnist Joseph von Westphalen findet das nicht: "Ich glaube es, ehrlich gesagt, nicht mit dem Volk der Rüpel." Das Wort von "Bundesrüpelblik" sei ein hübscher Einfall und habe "auch was Verlockendes", räumt er ein. Allerdings: "Man bemerkt eigentlich Rücksichtslosigkeit wenig." Wenn, dann an öffentlichen Plätzen, "in der S-Bahn vielleicht ein bisschen, ja, und vielleicht in Fußballstadien".
Im Umgang mit Rüpeln empfiehlt der Schriftsteller, "penetrant höflich" zu sein. Zum Beispiel, jemanden, der in der S-Bahn die Füße auf den Sitz gegenüber gelegt hat, nach der Uhrzeit zu fragen.
"Dann nimmt der auch die Füße runter komischerweise. Wenn man höflich fragt, wie viel Uhr ist es denn, dann wird der plötzlich ganz gesittet."

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Bundesrüpelblik Deutschland", so überschrieb der Journalist Jörg Häntzschel seinen Artikel im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung", in dem er feststellte, in Deutschland gebe es manche Regeln gar nicht, die man eigentlich bräuchte. Es gäbe viele, die keiner beachtet, und sogar gewisse Gesetze, die keiner ernst nehme. Gibt es also am Ende gar nichts, was wir Neuankömmlingen vermitteln können, weil es so weit mit dem guten Benehmen und der Einhaltung gesellschaftlicher Normen gar nicht ist bei uns? Darüber wollen wir jetzt mit dem Schriftsteller Joseph von Westphalen reden. Schönen guten Morgen, Herr von Westphalen!
Joseph von Westphalen: Guten Morgen, guten Morgen!
Kassel: Sind wir gar am Ende gar nicht das Volk der Dichter und Denker, sondern das der Rüpel und Rücksichtslosen?
von Westphalen: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Rücksichtslosigkeit bemerkt man ja – wo eigentlich? – an öffentlichen Plätzen, in der S-Bahn vielleicht ein bisschen, und vielleicht in den Fußballstadien, da gehe ich nicht hin, wo gerempelt wird. Oder im Fasching, da gehe ich auch nicht hin. Ich bemerke, man kann sich sehr schön zurückziehen, natürlich, als Schriftsteller hat man gut Reden, da sitzt man meistens in seiner Kammer. Aber man bemerkt eigentlich Rücksichtslosigkeit wenig. Ich bin nun auch ein Mann und keine Frau, ich werde nicht angegrapscht. Von daher bin ich eigentlich der falsche Gesprächspartner. Man sollte eine Frau fragen.
Natürlich gibt es Unfreundlichkeit, selbst unter Freunden
Kassel: Na ja, nach diesem einen Thema schon, aber ansonsten, vielleicht geht es tatsächlich in Münchener S-Bahnen anders zu als in denen in Berlin. Ich erlebe da eine Menge Rücksichtslosigkeit. Aber wenn, und das ist ja diese Idee, was Flüchtlinge alles wissen müssen, es einfach auch nur um Höflichkeit geht – kennen Sie das nicht auch, dass Sie ein Geschäft betreten, in dem gar nicht so viel los ist, Sie sagen Guten Morgen, und der Geschäftsinhaber antwortet nicht?
von Westphalen: Ja, natürlich kenne ich das, klar. Naja, es kommt darauf an an. Es gibt Geschäfte, wo man sehr freundlich begrüßt wird. Aber na gut, Unfreundlichkeit, das gibt es nun überall, selbst unter Bekannten, selbst unter Freunden können launische Freunde – ich meine, ich finde es ein bisschen – ich glaube es ehrlich gesagt nicht mit dem Volk der Rüpel. Es klingt schön, auch das Wort von der Bundesrüpel- – wie heißt das?
Kassel: Bundes- – Moment, muss ich auch mal gucken – "Bundesrüpelblik".
von Westphalen: Ja, ist ein schönes, hübsches Wort, ein hübscher Einfall, und der hat ja auch was Verlockendes, und natürlich kann man sie überall bemerken. Selbstverständlich kann man das bemerken, aber man kann es – es ist im Fokus dann wahrscheinlich größer, wenn man ehrlich ist – ich glaube, man kann dem natürlich ausweichen, und man kann natürlich auch, ich weiß nicht, was, vorleben, man kann Rüpeln vorleben – ich habe zum Beispiel was gemacht, was schon an der Grenze der Provokation war.
Ich bin 70, und kein Mensch steht mehr in der S-Bahn auf, natürlich, ich bin ja auch ganz munter. Ich verlange auch nicht, dass jemand aufsteht, im Gegenteil, ich bin mal aufgestanden, um einen jungen Menschen vermutlich nordafrikanischer Herkunft sich hinsetzen zu lassen. Ich wollte nur wissen, wie der reagiert. Der hat dann so gelächelt, der hat die Ironie verstanden und dann – ich glaube, so kann man auch miteinander umgehen, indem man ironisch was vorlebt oder ironisch Höflichkeit demonstriert, das geht auch. Also, man kommt da schon irgendwie klar, glaube ich.
"Dann versuche ich, strafend zu blicken"
Kassel: Aber bleiben wir doch, irgendwie sind wir da jetzt so stark gelandet, bleiben wir doch noch kurz in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Was tun Sie denn, wenn überhaupt, wenn in der S-Bahn, in der U-Bahn, meinetwegen auch im Bus bei Vierersitzen, wenn Sie da jemandem begegnen, der seine dreckigen Schuhe auf der gegenüberliegenden Sitzbank hat?
von Westphalen: Ja, das ist die Frage. Dann versuche ich, strafend zu blicken. Ich habe einmal übrigens tatsächlich mir nicht nur den Zorn, sondern mit einem blitzenden Messer, den Anblick eines blitzenden Messers zugezogen, indem ich jemandem, der ein Polster aufschnitt, gemahnt habe, dass er das nicht tun soll. Und da hat der mir sein Messer sehr deutlich gezeigt. Nun war ich allein mit ihm in der S-Bahn. Aber das war schon nicht mehr rüpelhaft, sondern das ist richtig kriminell. Gut, da habe ich halt jemanden gerufen, da war es zu spät. Und wenn jemand die Füße drauf hat – ich würde schon sagen, können Sie nicht die Füße runter tun, möglichst höflich.
Kassel: Ist das vielleicht, wenn Sie sagen, möglichst höflich, vielleicht auch der Trick? Hat mir eine Kollegin erzählt, wenn jemand unhöflich ist, ist sie mit einer solchen Penetranz höflich, bis der aufgibt und auch freundlich wird.
von Westphalen: Ja, man kann das, glaube ich, schon. Man kann penetrant höflich sein und dann – ich glaube, das wirkt auch. Man kann auch ganz – oder jemanden so einfach völlig absurd, jemand fragen, wie spät es ist. Dann nimmt der auch die Füße runter komischerweise. Wenn man höflich fragt, wieviel Uhr ist es denn, dann wird der plötzlich ganz gesittet. Aber wer legt denn die Füße jetzt drauf? Ist das jetzt ein Flüchtling oder ein Deutscher?
"Flüchtlinge wollen nicht so auffallen, nehme ich mal an"
Kassel: Das ist ja gerade das Thema. Wenn wir sagen, Flüchtlinge dürfen das nicht, dann dürfen wir es ja selber auch nicht tun. Ich bin mir ganz sicher, dass Deutsche das tun.
von Westphalen: Ich glaube eher, das Füße-Drauflegen, Flüchtlinge machen das eher nicht. Also gut, sie klauen, sie grapschen, haben wir jetzt gelernt, aber sie sind eher scheu und wollen nicht so auffallen, nehme ich mal an.
Kassel: Ich muss an dieser Stelle sagen, sagt Joseph von Westphalen, also bei dem, was Sie gerade gesagt haben – aber noch mal einen ernsten Übergang: Wir dürfen nicht den Unterschied vergessen zwischen Regeln und Konventionen und zwischen Gesetzen. Und Henschel erwähnt ja in diesem Text, auf den wir uns zum Teil auch beziehen, in der "Süddeutschen Zeitung", auch, dass Deutsche sich auch, obwohl sie immer als gesetzestreu gelten, an manche Gesetze grundsätzlich nicht halten. Er sagt, nachts bei Rot an der Ampel, wenn nirgendwo ein Auto ist, hält man an, aber zum Beispiel alle fahren zu schnell in der 30er-Zone, alle – das sagt er nicht, das sage ich jetzt – alle telefonieren mit ihrem Handy, obwohl es verboten ist. Ist es auch mit der Gesetzestreue inzwischen nicht mehr so weit her?
Benehmen und Gesetzestreue sind nicht das Gleiche
von Westphalen: Ja, bestimmt nicht. Aber das ist schon was anderes, finde ich. Benehmen und Gesetze, ich weiß nicht, das ist doch schon sehr schwierig, das kann man nicht in einen Hut werfen. Es gibt hier ganz viele Sachen, die einem wahnsinnig auf die Nerven gehen und die eben leider überhaupt nicht, die man eben darf, demokratisch darf. Und dann, mir geht die AfD, oder natürlich nicht nur mir, so wahnsinnig auf die Nerven. Mir geht auch Gläubigkeit, mir geht so wahnsinnig viel auf die Nerven. Fasching, Religion geht mir auf die Nerven, lautes politisches Gekreische – ich meine, wo fängt es denn an? Ich muss mich jetzt zurückziehen vor dem, das alles ist ja erlaubt, das ist ja nicht mal verboten. Also, die Schwelle dessen, was erlaubt ist und trotzdem ziemlich unerträglich, das ist ja auch schon ganz viel.
Und dann kommt noch der nächste Bereich, Verbote werden übertreten – das finde ich gar nicht mehr so – das Gejohle nach dem Fußballspiel, das ist auch schon – das kann ich kaum aushalten, wenn ich in der S-Bahn sitze. Alles erlaubt. Im Gegenteil, das gilt sogar als Ausdruck der deutschen Freude, wenn irgendjemand gewonnen hat. Das ist ja gewünscht geradezu. Oder Faschingsumzug, Oktoberfest, all diese Sachen. Das sind ja alles Geld bringende, gewünschte Dinge, die mir auch schon auf den Wecker gehen, und da kommt das andere, spielt das gar nicht mehr so eine große Rolle, finde ich, die Füße auf dem Polster.
Kassel: Ich habe jetzt gerade eine Wette verloren. Ich hatte gewettet, wie lange es dauert, bis Sie als Münchener, also nicht geborener, aber in München lebender Mensch, auf das Oktoberfest kommen. Ich habe die Wette verloren, aber Sie haben das Gespräch gewonnen. Ich danke Ihnen sehr!
von Westphalen: Nein, das habe ich nicht gewonnen! Danke auch!
Kassel: Sagen wir Patt. Joseph von Westfalen war das über Regeln und Konventionen und am Schluss auch noch über Gesetze, die es einzuhalten gilt und die nicht immer eingehalten werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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