"Deutsche Chronik" in Hamburg auf der Bühne

Theater Altona spielt ambitionierte Kempowski-Adaption

"Die Kempowski Saga" am Altonaer Theater.  Im Bild: die Schauspieler Tobias Dürr als Erex, Johan Richter als Erzähler Walter Kempowski und Philip Spreen als Karl.
"Die Kempowski Saga" am Altonaer Theater. Im Bild: die Schauspieler Tobias Dürr als Erex, Johan Richter als Erzähler Walter Kempowski und Philip Spreen als Karl. © picture alliance/Markus Scholz/dpa
Von Peter Helling · 22.09.2018
Am Altonaer Theater in Hamburg füllt Walter Kempowskis literatisches Mammutwerk "Deutsche Chronik" vier Abende. Es sind schreckliche Geschichten, die Intendant Axel Schneider inszeniert - Weltkrieg und Rassenwahn, Wirtschaftskrise und Bombenhagel.
Ausschnitt aus einer Probe: "Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Mein Name ist Walter Kempowski."
So locker fängt sie an, die Kempowski-Saga. Schauspieler Johan Richter führt als Erzähler in Knickerbockern durch diesen Geschichts-Kosmos. Schon rein äußerlich hat er Ähnlichkeiten mit dem Schriftsteller: ein schmaler blasser Typ mit großer Brille und Straßenköter-blonder Haarmähne.
Ausschnitt aus einer Probe: "Wir haben so einiges vor. Aber: keine Angst."
Ironisch lächelnd steht er da: ein Bündel von Büchern in seiner Hand. Es sind neun. Genauso viel wie die "Deutsche Chronik" Kempowskis Bände hat.

"Er schafft es, einen Humor mitschwingen zu lassen"

Aber wie bringt man die auf eine Theaterbühne? Mit einem neunköpfigen Ensemble? Eine Mammut-Aufgabe, unterstreicht Regisseur Axel Schneider:
"Es ist eine Familiengeschichte, die aber in Zeitläufte gerät, sie spielt teilweise im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik, teilweise noch in der Kaiserzeit."
Fast einhundert Jahre, drei Generationen: Kempowskis eigene Familiengeschichte zwischen Rostock und Hamburg-Wandsbek zeigt den Niedergang des hanseatischen Bürgertums.
Gleichzeitig: "Was ich so toll finde an Kempowski ist, dass er sich nie draufsetzt, sondern es schafft, einen Humor mitschwingen zu lassen."
Humor, dieses Wort fällt oft bei den Machern der Saga. Das widerspricht ein bisschen dem Klischee, das manche von Kempowski haben: dem Jahrhundert-Sammler, Schöpfer gewichtiger Bleiwüsten. Auch Publizist Jan Philipp Reemtsma, der das Projekt fördert, hatte früher Vorbehalte gegen den Autor:
"Weil ich mit Kempowski in Verbindung kam, als er sehr populär war, und zwar durch die Verfilmung, das gefiel mir alles nicht. Ich dachte, das wäre so eine Wohlfühl-Literatur für Nostalgiker.
Bald aber wurde ihm klar:
"Ein großes literarisches Werk, nicht nur vom zeitgeschichtlich Interessanten, sondern vom Technisch-Literarischen her."

Kempowskis Vermächtnis in Nartum

Wer dem 2007 verstorbenen Schriftsteller ganz nah kommen will, muss hierher. Zu einem der geheimnisvollsten Schriftstellerhäuser im Land. Das Haus Kreienhoop in Nartum bei Bremen. Kempowskis Witwe Hildegard wohnt hier, sie bewahrt das Vermächtnis ihres Mannes, der das Haus entworfen hat.
"Alles von Walter Kempowski, das hat er alles geplant."
Sein ganzes Schaffen scheint sich in einem Gegenstand zu verdichten, er hängt an der Wand des sogenannten Rostock-Saales:
"Walter hat die hingehängt, das ist eine Violine meines Großvaters Kempowski, und daran hängt die Geschichte, die ich als erstes von ihm gehört habe: Mein Großvater sitzt im Rollstuhl und lässt sich die Violine bringen, und dann fiedelt er so lange, bis ihn die zwei Hunde anheulen."
Und wieder – Kempowskis Humor:
"Der Stil und dass ganze Werk Kempowskis ist gekennzeichnet von der Verknüpfung von Tragik und Komik, weshalb man auch die schrecklichen Geschichten leichter lesen kann."
Schreckliche Geschichten wie Weltkrieg und Rassenwahn, Wirtschaftskrise und Bombenhagel. Eine Herausforderung für die Theatermacher, findet Reemtsma:
"Weil er gewissermaßen fotografisch schreibt, immer einzelne Bilder aneinanderhängt mit sehr kurzen Gesprächssequenzen, die man reihen kann wie wenn man ein Fotoalbum durchblättert. Sie müssen aus der Reihung eine Spannung entwickeln."

Durchschnittliche Typen, selten heroisch, oft geschwätzig

Er sieht die Qualität der Deutschen Chronik vor allem darin ...
"... wie Menschen versuchen, den Alltag des 'Es geht immer so weiter und wird immer so weiter gehen' aufrechtzuerhalten, während die Welt untergeht."
Es sind skurrile, durchschnittliche Typen. Selten heroisch, oft geschwätzig. Bestes Bühnenfutter also. Das Ensemble schlüpft manchmal mit nur einem Kostümteil in eine der bis zu 100 Figuren.
Ausschnitt aus einer Probe: "Ich, Karl Georg Kempowski, marschiere jetzt aus. Mit einem richtigen Gewehr über der Schulter und richtigen Patronen in der Tasche."
Statt platter Geschichtsrekonstruktion soll eine offene Erzählform entstehen. Die Lieder klingen nach Heimat – und Heimatwahn. Im Hintergrund nämlich tickt eine Uhr. Bürgerliche Gewissheiten werden porös. Der Sound der Stammtische schwillt zum Beben an.
"Nochmal das Gleiche! Prost! In diesem Kreis wird Tacheles geredet."
Die Kempowski-Saga. Aus einem Fotoalbum wird Geschichte. Es sind unsere eigenen Geschichten. Das sagt viel über heute aus.
Reemtsma: "Geschichte ist nur insoweit interessant, soweit sie uns meint: das heißt wir uns in ihr gemeint fühlen. Man denkt immer, man sei durch so und so viele Generationen voneinander getrennt und deshalb verstünde man die Menschen von früher nicht mehr, und stellt dann fest: Doch, doch, so groß sind die Unterschiede nicht."

Das Stück "Die Kempowski-Saga Teil1: Aus großer Zeit. Nach den Romanen 'Aus großer Zeit' und 'Schöne Aussicht' von Walter Kempowski" läuft am Altonaer Theater in Hamburg. Termine und Infos auf der Webseite des Theaters.

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