Deutsche Anwärter auf EU-Spitzenämter

"Es könnte zu einem hochpolitisierten Machtkampf kommen"

13:04 Minuten
Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, aufgenommen im Februar 2019 auf der Jahrespressekonferenz Deutsche Bundesbank
Wenn Deutschland bei der EU-Kommission leer ausginge, wäre es eine Versuchung, Jens Weidmann – derzeit Chef der Deutschen Bundesbank – beim EZB durchzusetzen, meint Adam Tooze. © imago images / Hannelore Förster
Adam Tooze im Gespräch mit Dieter Kassel · 12.06.2019
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Europäische Spitzenposten sind zu vergeben: der des EU-Kommissionschefs und auch das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze blickt auf die deutschen Kandidaten – und auf die aktuelle Lage in Italien.
Dieter Kassel: Manfred Weber hat schon angefangen – ich finde, nicht "schon", aber er selber hat das so formuliert –, Koalitionsgespräche zu führen, um eventuell doch noch EU-Kommissionspräsident werden zu können. Aber gerade dann, wenn ihm das nicht gelingt, dann könnte es sehr gut sein, dass der Deutsche Jens Weidmann Direktor der Europäischen Zentralbank wird. So oder so, die Finanzpolitik der Eurozone wird auch künftig sehr stark von Deutschland aus bestimmt werden.
Und genau darüber habe ich mit Adam Tooze gesprochen, der britische Wirtschaftshistoriker lehrt an der Columbia University in New York, ist im Moment allerdings in Italien, genau da habe ich ihn erwischt. Und ich habe ihn gefragt, was denn ein EZB-Präsident namens Jens Weidmann für die Politik in der Eurozone wirklich bedeuten könnte.
Adam Tooze: Das ist eine Möglichkeit, die viel diskutiert worden ist, schon seit Jahren, und es ist eine Möglichkeit, die unter den Marktakteuren in den großen Geldmärkten der Welt, in London, in New York, Sorgen bereitet. Und vor allem befürchtet man, dass Weidmann aufgrund seiner persönlichen Veranlagung, seiner persönlichen Positionierung, aber auch aufgrund seiner Empfindlichkeit in gewisser Weise für die deutsche Stimmung, nicht die Flexibilität zeigen würde im Ernstfall, die für Dragi so bezeichnend gewesen ist und die für das Überleben der Eurozone im Sommer 2012 so entscheidend war.
Adam Tooze auf einer Pressekonferenz. Er hält mit sorgenvoller Mine die Hand am Kinn.
Der deutsch-britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze macht sich Gedanken um einen hochpolitisierten Machtkampf um EU-Spitzenämter.© Vladimir Gerdo / TASS / imago
Kassel: Aber könnte es überhaupt wirklich passieren? Jens Weidmann müsste ja auch mit gewählt und unterstützt werden von Ländern wie eben Italien, Griechenland, Spanien, Portugal. Glauben Sie, dass das überhaupt denkbar ist, dass die den unterstützen und wählen?
Tooze: Eher nicht. Ich denke, das ist für viele Staaten in der Eurozone eine "Red Line". Das Problem ist natürlich, dass Entscheidungen hier nicht ohne Weiteres miteinander koordiniert werden. Und wenn Manfred Weber zum Beispiel als Präsident der Kommission nicht durchzusetzen ist, dann heißt das nicht unbedingt, dass in gewisser Weise gleichzeitig Rücksicht genommen wird auf die Entscheidung im EZB-Rat.
Und das ist wirklich die Befürchtung, dass es zu einem hochpolitisierten Machtkampf kommen könnte. Wenn also Deutschland bei der Kommission leer ausgeht, wäre es natürlich eine Versuchung, Weidmann beim EZB durchzusetzen.

"Interesse am Florieren der Eurozone erkennen"

Kassel: Sie haben ja schon in Ihrem Buch "Crashed: Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben", das im vergangenen Jahr erschienen ist, auch auf Deutsch, schon da haben Sie ja Deutschland ziemlich viel Schuld zugewiesen und gesagt, Deutschland hat nur seine eigenen Interessen beachtet während dieser Krise und ist dadurch mit verantwortlich für die Folgen der Krise, vor allen Dingen in Südeuropa.
Aber ist das so einfach, zu sagen, es geht nur um Deutschland? Gibt es nicht, was die Finanzpolitik angeht, eigentlich eine Spaltung in Nord und Süd in der Eurozone?
Tooze: Bestimmt, und unter anderem würde ich auch darauf insistieren, dass es nicht unbedingt einfach nur um deutsche Interessen geht, sondern um eine bestimmte Auslegung der Interessen Deutschlands.
Und meine Kritik ist nicht, dass Deutschland seine Interessen vertritt, sondern dass Deutschland seine Interessen so engstirnig und in gewisser Weise kontraproduktiv auffasst. Das heißt, Deutschland müsste eigentlich sein Interesse an dem Fortbestehen und dem Florieren der Eurozone erkennen, und das wurde unter der sehr komparativen Auslegung deutscher Interessen während der Eurokrise nicht verfolgt.

Italien: EU in der Zwangslage

Kassel: Aber wenn wir zum Beispiel jetzt mal kurz nach Italien blicken, rein zufällig sind Sie ja gerade dort, wenn Sie sich die Finanzpolitik der amtierenden italienischen Regierung angucken, die neuen Schulden, die gemacht werden, es gibt sogar Pläne für eine Art Mini-Bot, sollen die heißen, Ersatzwährung, was soll denn da eine Europäische Zentralbank, auch eine EU machen? Man kann doch nicht einfach sagen, die Italiener können machen, was sie wollen?
Tooze: Bestimmt nicht. Man ist da, glaube ich, in einer richtigen Zwangslage. Es ist unbestreitbar, glaube ich, dass die italienische Wirtschaft notleidend ist und schon seit Jahren, und dass sie eigentlich unter normalen Bedingungen, sagen wir mal, hätte sie eine unabhängige Geld- und Fiskalpolitik, durchaus Stimulierungen braucht.
Das Problem ist auf der einen Seite, dass die bereits angehäuften Schulden Italiens Italien in die Gefahrenzone bringen. Das heißt, bei 130 Prozent des Bruttosozialprodukts muss man sehr vorsichtig agieren, wenn diese Schulden nicht verteilt werden können auf europäische Institutionen.
Und auf der anderen Seite muss man natürlich auch rechnen mit den nationalistischen, populistischen Tendenzen, vor allem der Lega, die mittlerweile wirklich anführend ist in der italienischen Politik. Das heißt also, die unmittelbare, makroökonomische Logik, die eigentlich zur Stimulierung neigen würde, widerspricht auf der einen Seite den finanziellen Zwängen, und darüber hinaus gibt es natürlich dieses Problem, dass Salvini wirklich ein unzurechnungsfähiger, rechtsgerichteter Populist ist, der aus dem Streit mit Brüssel Gewinn schlägt und Gewinn zu schlagen trachtet.

"Salvini ist ein Spieler, aber auch ein kluger Politiker"

Kassel: Salvini ist unzurechnungsfähig, haben Sie gerade gesagt, und er selber hat immer mal wieder auch gesagt, im Wahlkampf, bei anderen Gelegenheiten, er würde am liebsten die Eurozone verlassen. Ist das für Sie nur Gerede oder halten Sie das für denkbar, dass Italien, nicht Griechenland, nicht irgendein anderes Land, über das diskutiert wurde, sondern das ein Land wie Italien sagt, wir gehen raus aus dem Euro?
Tooze: Ja, Salvini ist ein Spieler, er ist auch ein kluger Politiker, und man muss damit rechnen, glaube ich, dass im harten Kern der Politik der Lega so ein Ansatz da ist, der tatsächlich in die Richtung treiben würde, dass Italien ausbricht aus dem Euroverbund. Das ist aber in keiner Weise mehrheitsfähig in Italien und das weiß Salvini auch. In dem Sinne muss er sich zurückhalten.
Er weiß, dass, wenn er so grobe Töne anschlägt, seine Beliebtheit fällt. Ganz bewusst kann man sich, glaube ich, nicht vorstellen, dass Rom den Versuch unternimmt, den Euroraum zu verlassen. Das wäre für die italienische Wirtschaft absolut verheerend.
Kassel: Würden Sie denn ein angemessenes, politisches Verhalten auf europäischer Ebene Manfred Weber zutrauen? Es ist ja noch bei Weitem nicht ausgeschlossen, dass er doch EU-Kommissionspräsident wird. Relativ sicher ist aber: Wenn er es wird, wird Weidmann ja nicht EZB-Präsident. Also eine Kombination aus einem anderen an der Spitze der Europäischen Zentralbank und Manfred Weber als Chef der EU-Kommission, können Sie sich da vernünftiges politisches Handeln vorstellen?
Tooze: Es ist bestimmt nicht ein Dreamteam, aber das hätte man, glaube ich, von Juncker und Dragi auch nicht unbedingt sagen können und von ihren Vorläufern. Die europäische Politik muss mit dem Rohmaterial in gewisser Weise gemacht werden, das zur Verfügung steht. Wenn das als Möglichkeit sich entpuppt, Weber in gewisser Weise für die Kommission und ein anderer Kompromisskandidat, vielleicht ein Franzose zum Beispiel, für die EZB, wäre das nicht das Schlimmste aller möglichen Welten.

"Die Zentralbankpolitik ist ein ganz großer Hebel"

Kassel: Was mir aber durch den Kopf geht, ist, ob es so entscheidend ist, wer Kommissionspräsident wird, wer EZB-Präsident wird. Natürlich ist das wichtig für die Finanzpolitik, aber wenn wir uns den Zusammenhalt der Eurozone und der EU vorstellen, ist nicht vielleicht entscheidend, was die rechtspopulistischen Fraktionen im EU-Parlament tun? Könnten am Ende nicht die Rechten im EU-Parlament das alles sprengen?
Tooze: Wir haben bestimmt eine verfahrene Situation in der europäischen Politik im Moment. Das Besondere an der Zentralbankpolitik ist, dass das in gewisser Weise doch ein ganz großer Hebel ist. Da ist tatsächlich die Möglichkeit von kleinen Gruppen von Entscheidungsträgern, wirklich einen massiv überproportionalen Einfluss auszuüben. Das haben wir bei der FED gesehen während der Krisenzeit nach 2008, das haben wir beim EZB gesehen, zum Guten und zum Schlechten, in der Zeit nach 2008.
Also da kommt man nicht drum herum, dass die Personalentscheidungen, die Ausrichtung, die politische Ausrichtung dieser Einrichtung tatsächlich entscheidende Bedeutung haben könnte. Darüber hinaus würde ich Ihnen sehr recht geben, dass im Moment überhaupt keine klare Linie in der europäischen Politik abzusehen ist.
Das heißt also, die Situation ist ungeheuer gemischt, es ist eine Gemengelage geradezu, und wie sich die Rechtspopulisten im fiskalpolitischen Bereich verhalten, ist sehr unklar. Man vermutet natürlich einen Egoismus als Grundtenor, aber wie sich das dann in der europäischen Politik niederschlägt, ist eine offene Frage.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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