Deutsch-türkische Beziehungen

Zwist aus Kalkül

Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan halten in Köln Fahnen und ein Bild des Staatschefs.
Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan halten in Köln Fahnen und ein Bild des Staatschefs. © dpa-Bildfunk / Henning Kaiser
Von Reinhard Baumgarten · 04.03.2017
Die Eskalation im Streit um abgesagte Wahlauftritte türkischer Politiker in Deutschland ist Kalkül, meint Reinhard Baumgarten. Denn die Führung des Landes ist nervös: Ein "Ja" zur Machtausweitung Erdogans ist noch längst nicht sicher.
Nie und nimmer kann der Bürgermeister einer 30.000-Seelengemeinde den Auftritt eines türkischen Ministers verhindern wollen. Wer traut sich denn sowas? In der Türkei ist das undenkbar. Hier werden wichtige Entscheidungen von wichtigen Leuten getroffen. Ganz oben steht natürlich Präsident Erdogan. Jetzt schon. Er wird noch weiter oben stehen, wenn ihm das türkische Wahlvolk dazu am 16. April seinen Segen erteilt.

Für Erdogan geht es um alles oder nichts

Die Aufgeregtheiten seit Donnerstagabend sind in diesem Licht zu sehen. Hier geht es um alles oder nichts. Der Ausgang der Volksabstimmung ist noch offen. Die Frage "Mehr Macht dem Präsidenten?" ist kein Selbstläufer, das Ja ist noch nicht sicher. Die Führung des Landes ist nervös. Sie trommelt ohne Unterlass für ein Ja. Jeden Tag, stundenlang, auf allen verfügbaren Kanälen. Wer nein sagt, wird in die Nähe von Terroristen gerückt. Gaggenaus Bürgermeister hat nein gesagt. Er ist deswegen kein Terrorist. Aber das Land, in dem er sein Städtchen regiert, ist ein Hort des Terrorismus. Das jedenfalls sagt Bekir Bozdağ, der türkische Justizminister. Er sagt das, weil ihm ein Wahlkampfauftritt im badischen Gaggenau verwehrt wurde. Bozdağ kennt wahrscheinlich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2012. Darin wird folgendes klargestellt: Ausländische Politiker können nicht einfach die politisch-protokollarische Hoheit des Gastgebers unterlaufen, wenn dieser es nicht will.
Natürlich kann Herr Bozdağ in Deutschland reden und seine Meinung äußern. Ist er deswegen belangt worden, weil er Deutschland wiederholt beschuldigt hat, Terroristen zu beherbergen und zu unterstützen? In der Türkei sitzen viele Menschen wegen weniger schwerwiegenden Verunglimpfungen im Knast. Ist er belangt worden, weil er immer wieder behauptet, türkisch-stämmige Menschen hätten keine Rechte in Deutschland? Wer in der Türkei behauptet, Kurden hätten keine Rechte, droht wegen Aufwiegelung im Knast zu landen. Deniz Yücel, der Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", hat in einem seiner Artikel einen Witz über Türken und Kurden verwendet. Nun soll er wegen Volksverhetzung angeklagt werden.

Erdoga und Yildirim durften Wahlkampf in Deutschland machen

Das wirklich Erschreckende ist die Maßlosigkeit, mit der die Spitzen der türkischen Führung agieren und argumentieren. 125.000 Entlassene, über 40.000 Inhaftierte, 154 Journalisten im Knast, Säuberung in Polizei, Armee, Justiz und im Bildungssektor. Und nun der Streit zwischen Ankara und Berlin. Herr Erdogan, Herr Yildirim und andere haben schon Wahlkampf machen dürfen in Deutschland. Dazu brauchten sie die Erlaubnis des Gastgebers. Und die haben sie auch bekommen. Es geht dem sich laut beschwerenden Justizminister Bozdağ nicht um Demokratie und Meinungsfreiheit. Es geht ihm um Krawall, um Eskalation. Deutschland als Wirtschaftsmacht und politisches Schwergewicht ist der richtige Gegner, an dem man sein eigenes Profil schärfen sowie Stolz und nationalistische Gefühle aufheizen kann. Darauf setzen die Ja-Sager in der Türkei. Sie wollen eine Verfassungsänderung erzwingen. Sie wollen Präsident Erdogan zum Quasi-Alleinherrscher machen. Koste es, was es wolle.
Spanien, Italien, Deutschland – sie haben blutige Erfahrungen mit ihren jeweiligen Alleinherrschern gemacht und Lehren gezogen. Assad, Gaddafi, Saddam Hussein – Alleinherrscher, die ihre Gegner als Terroristen bezeichneten und niedermachten. Wohin wendet sich die Türkei mit ihrem immer mächtiger werdenden Präsidenten Erdogan? Hoffentlich zieht er die richtigen Lehren, bevor sein Volk und sein Land überkommen geglaubte Erfahrungen machen müssen.
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