Detlef Gürtler über sein Buch "Clusterfuck"

Wenn alles den Bach runtergeht und nichts mehr funktioniert

Buchcover "Clusterfuck" von Holm Friebe und Detlef Gürtler, im Hintergrund die Illustration einer Frau, die entsetzt aufschreit.
Buchcover "Clusterfuck" von Holm Friebe und Detlef Gürtler, im Hintergrund die Illustration einer Frau, die entsetzt aufschreit. © Hanser Verlag / imago
Detlef Gürtler im Gespräch mit Florian Felix Weyh · 21.07.2018
Der Begriff kommt aus der US-Militärsprache: "Clusterfuck" meine Situationen, in denen es keine Lösungen mehr gebe, erklärt Journalist Detlef Gürtler. Deshalb heißt das Buch über die größten Katastrophen der Menschheit genau so – das er mit Holm Friebe verfasst hat.
Florian Felix Weyh: Die "Lesart" am Samstag, in der immer alles komplett so läuft, wie es laufen sollte. Die Gesprächspartner sagen jubelnd zu, haben auch Zeit, ins Berliner Studio zu kommen oder wir kriegen mühelos bei ARD-Kollegen einen Studiotermin in einer anderen Stadt, sogar im Ausland. Mit Holm Friebe und Detlef Gürtler, Autoren des seltsam klingenden Buches "Clusterfuck" war es ganz genauso, beinahe jedenfalls. Der eine reagierte nicht auf Anfragen, vermutlich, weil er seinen Urlaub genießt. Der andere meldete sich zwar sofort, wechselte dann aber zweimal den Aufenthaltsort und das Zeitfenster, in dem er erreichbar wäre. Mir scheint, der Name des Buches ist hier wirklich Programm, mailte er mir zwischendrin leicht verzweifelt, und trotzdem habe ich ihn jetzt irgendwo auf der Welt an der Strippe. Guten Morgen, Herr Gürtler!
Detlef Gürtler: Einen wunderschönen guten Morgen!
Weyh: Der Name des Buches ist "Clusterfuck", und das ist kein besonders gutes Programm, nichts, was man sich vornehmen könnte oder sollte. Was zum Teufel meint Clusterfuck?

"Der Begriff kommt aus der Militärsprache der USA"

Gürtler: Clusterfuck meint Situationen, in denen es nicht weitergeht, in denen man sich verrannt hat, in denen es keine Lösungen mehr gibt, in denen alles das, was man normalerweise tut, wenn man ein Problem hat, nicht mehr funktioniert. Der Begriff kommt aus der Militärsprache der USA und meint dort auch mehr oder weniger, alles geht den Bach runter, alles funktioniert nicht mehr. Es gibt Situationen, die jeder im Alltag schon gehabt hat, in denen sowas passiert. In Berlin haben wir einen Flughafen, der ungefähr genauso funktioniert, und sogar in der Weltpolitik soll sich gerade sowas abspielen.
Weyh: "Unser Zeitalter" – ich zitiere Sie – "ist das Zeitalter des Clusterfucks, und es beginnt erst gerade." Warum?
Gürtler: Weil solche Situationen, in denen man nichts mehr tun kann, üblicherweise Situationen sind, in denen man sehr komplexe Systeme hat, die aus dem Ruder laufen. In früheren Zeiten waren Katastrophen, waren Naturkatastrophen, Hungersnöte, Überschwemmungen et cetera, das konnte man auf einen Gott schieben, und danach ging es weiter.
In unseren Zeiten hat man hochanfällige hochkomplexe Systeme, und wenn eines davon nicht mehr funktioniert, kann das sein, dass das eine Kaskade hinter sich bringt, und wir sind in immer mehr Situationen darauf angewiesen, dass Systeme funktionieren. Wenn einmal das Internet verschwindet, wenn einmal Facebook sich abschaltet, wenn einmal der Strom ausfällt, kommt einem das schon fast wie ein Weltuntergang vor, und wenn die drei Sachen zusammenpassieren, dann gibt es die ersten Toten.
Weyh: Die Ursachen, schreiben Sie, ist Inkompetenz, Kommunikationsversagen oder eine komplexe Umgebung. Die komplexe Umgebung hatten wir gerade angedeutet, aber Inkompetenz und Kommunikationsversagen, sollte man meinen, kann man ja als Mensch in den Griff kriegen.

"Wir haben im Moment einen US-Präsidenten, der meint, dass er das alles im Griff hat"

Gürtler: Ja, schön wäre es. Also es gibt – ich weiß nicht, ob Sie den Begriff kennen – das Peter-Prinzip, wonach Menschen immer so weit befördert werden, dass sie es gerade nicht mehr hinkriegen, dass sie nicht mehr dafür kompetent sind. Wir haben es sehr oft, dass sich Menschen mehr zutrauen, als sie denken, dass sie können, dass sie meinen, die Situation im Griff zu haben.
Das hat uns in der Evolution immer weitergebracht. Diejenigen, die meinten, die Situation noch retten zu können, waren zum Teil die, die überlebt haben. Also von daher, das ist schon menschlich, dass man das meint. Man kann damit gerade sehr viel Unheil anrichten, wenn man es eben nicht schafft, das Ding im Griff zu haben.
Wir haben im Moment einen US-Präsidenten, der meint, dass er das alles im Griff hat. Wir haben ihm gegenüber einen russischen Präsidenten, der wirklich alles im Griff hat. Ich vermute, dass für denjenigen, der es nur meint, dass er es im Griff hat, die Sache tatsächlich katastrophaler enden wird, als für den, der es tatsächlich im Griff hat.

Weyh: Da kommen wir fast schon in den Bereich der Prognostik. Dazu gibt es in der "Lesart" nachher noch ein Interview mit einem sogenannten Super-Forecaster. Wicked problems ist so ein Wort, das bei Ihnen auftaucht, also auch eine Umschreibung dafür, dass zu viele Sachen miteinander verknotet sind, und dann gibt es auch den schönen Begriff des Kabelsalats, den man übertragen kann auf Probleme.
Trump sagt etwas, Putin steht lächelnd daneben. Vor ihnen ein Schild mit der Aufschrift "Helsinki 2018", hinter ihnen die Fahnen beider Staaten.
Alles im Griff haben? Detlef Gürtler sieht zumindest bei Donald Trump und Wladimir Putin einen wichtigen Unterschied. © J. Nukari/dpa

"Dann kommen zum Grundproblem die Nebenprobleme dazu"

Gürtler: Das für mich Augenfälligste … Als wir das Buch geschrieben haben, wussten wir nicht, können wir auf den BER überhaupt eingehen, den Flughafen in Berlin, oder ist er dann schon durch, wenn wir mit dem Buch rauskommen. Wenn das Ding einmal auf der falschen Schiene ist und man nicht mehr in der Lage ist oder keiner Willens ist, das anzugehen, dann kommen zum Grundproblem die Nebenprobleme dazu, aus den Nebenproblemen werden neue Grundprobleme, und dann verheddert sich das.
Es gibt immer irgendwelche Lösungen, mit denen man da wieder rauskommt, und sei es die Lösung, dass man den Flughafen gar nicht baut, sondern irgendwo anders auf neuer grüner Wiese wieder neu anfängt. Also Lösungen gibt es immer. Wenn alle Beteiligten fast resignativ sagen, es gibt keine Lösung, dann wird man auch keine finden. Genau die Situation haben wir da zum Beispiel.
Es ist ein bisschen menschliches Versagen, es ist ein bisschen Kommunikationsversagen, vielleicht ist auch irgendwo ein Umschlag mit Bargeld über den Tisch geflossen, der dabei eine Rolle gespielt hat. Also ein böser Wille kann auch dabei sein, aber auch das ist beim Menschen relativ üblich. Am Ende steht eine Katastrophe.
Weyh: Eigentlich müsste ich jetzt sagen, das, was unsere Gesprächspartner hier äußern, ist nicht Meinung des Senders. Ich bin bei Ihnen gestolpert über ein paar schöne Gesetze. Man kennt natürlich Murphy’s Law, aber eins passt da rein: Brooks’ Law – mehr Manpower bei verspäteten Projekten verursacht weitere Verspätung. Ist doch paradox.

"In manchen Fällen ist es sinnvoller, sich erstmal zurückzuziehen"

Gürtler: Kann gerade in komplexen Situationen genau so auftauchen. Man muss die neuen Leute einarbeiten, die neuen Leute müssen versuchen, für sich selber eine Daseinsberechtigung zu finden, also müssen auch irgendwas tun. In manchen Fällen ist es sinnvoller, sich erstmal zurückzuziehen, das Problem anzuschauen, was ist denn da wirklich los.
Dafür braucht man nicht viele Leute, sondern braucht man Ruhe und zwei, drei Menschen, die bereit sind, tatsächlich sich das genau anzuschauen, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf Personen.
Weyh: Troubleshooting, the problem with trouble shooting is that trouble shoots back.
Gürtler: Es stimmt nicht immer. Also es gibt ja auch Probleme, die gelöst werden. Zum Teil werden sie gelöst einfach dadurch, dass Leute wegsterben oder dass das ganze Projekt explodiert. Wenn man ein Problem mit einer Brücke hat und die stürzt ein, dann hat man das Problem nicht mehr, dass die Brücke irgendwie ein Problem haben könnte, sondern die ist dann einfach weg.
Also es gibt die verschiedensten Formen, in denen das tatsächlich passiert. Wir sind ja jetzt auch nicht so pessimistisch, dass immer alles schiefgeht, sondern man kann ja auch aus der Katastrophe wieder was Neues lernen, aber in vielen Fällen ist es so, dass das, was einen in das Problem reingeführt hat, dass das nicht die Methoden sind, mit denen man aus dem Problem wieder rauskommt.
Das heißt, wenn ich Troubleshooting mache, dann mache ich das normalerweise mit den Augen, mit denen ich die ganze Zeit das schon betrachtet habe. Es wäre besser, ich würde mir einen Satz neue Augen nehmen. Woher nehmen, wenn nicht stehlen in dem Fall.
Weyh: Ein Satz neuer Augen. Das Leitthema der heutigen "Lesart" sind Umbrüche. Da sind historische Umbrüche dabei wie 45 oder 68, und man kommt ja irgendwie doch zur Ansicht, Umbrüche sind unvermeidlich, meist unvorhersehbar und nicht zu steuern, aber sind sie eigentlich schlecht?
Pestumzug auf dem mittelalterlichen Sparrenburgfest in Bielefeld (2004)
Ein Pestumzug auf dem mittelalterlichen Sparrenburgfest in Bielefeld: Das Aussterben stand damals vor der Tür, sagt Detlef Gürtler.© imago/ecomedia/robert fishman

"Also für die, die gerade drin sind, ist es eine Katastrophe"

Gürtler: Also für die, die gerade drin sind, ist es eine Katastrophe. Ich habe das neulich mir überlegt, als die Pest Europa im Griff hat im 14. Jahrhundert. Das war für alle Beteiligten, also alle, die dabei waren, war das die Urkatastrophe der Menschheit, also das Aussterben stand vor der Tür.
Heutige Historiker sind relativ sicher, dass durch die neue Struktur, die Europa nach der Pest bekommen hat, dass das eine Grundlage für den Aufstieg war, der Europa zur Supermacht auf Weltmaßstab gebracht hat. Das kann man als Historiker hinterher ganz gut sagen.
Vielleicht ist auch das, was Trump gerade anrichtet, etwas, wo spätere Historiker sagen werden, das hat die Grundlage für diese neue Ordnung gelegt, wobei ich Ihnen jetzt nicht sagen kann, wie diese neue Ordnung aussieht. Also ich kann Ihnen nur einen abstrakten Trost geben, aber keinen konkreten.
Weyh: Vielen Dank, Detlef Gürtler! Wir sprachen über sein mit Holm Friebe gemeinsam geschriebenes Buch "Clusterfuck: Warum Katastrophen uns lieben und eine selten allein kommt", erschienen im Hanser-Verlag, 288 Seiten kosten 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Holm Friebe, Detlef Gürtler: Clusterfuck. Warum Katastrophen uns lieben - und eine selten allein kommt
Hanser Verlag, München 2018
288 Seiten, 22 Euro

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