Geräusche aus der Kindheit

Ein Fenster in die Vergangenheit

Von Bettina Conradi · 15.09.2021
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Manchmal sind es ganz alltägliche Geräusche wie ein Staubsauger oder das Rauschen des Windes, die in uns Kindheitserinnerungen wecken. Manchmal sind es aber auch dramatische Geräusche, je nachdem, wann und wo wir aufgewachsen sind.
Ein Geräusch, das ein Fenster in die Vergangenheit ist und uns an unsere Kindheit erinnert, ist etwas sehr Persönliches. Es hängt davon ab, ob wir in einer Stadt oder auf dem Land aufgewachsen sind, ob in Deutschland oder in der Ferne, irgendwo auf der Welt. Auch Lebensumstände spielen eine Rolle. Sind wir in einer wohlsituierten, bürgerlichen Familie aufgewachsen oder in einem Arbeiterhaushalt?
Und manche Geräusche gibt es heute glücklicherweise nicht mehr. Deshalb ist auch die Zeit entscheidend, wann wir unsere Kindheit erlebt haben. Hier erzählen Menschen von Erlebnissen, die sie mit bestimmten Geräuschen ihrer Kindheit verbinden.

Teil 1: Sirenen und Stiefel

Geboren wurde Peter Greulich 1937, noch vor dem II. Weltkrieg. Wenn er zurück an seine Kindheit denkt, dann fallen ihm die Geräusche des Krieges wieder ein. Vor allem erinnert er sich an das Heulen der Sirenen in Gera, wenn die alliierten Bomber sich näherten. Mit seiner Familie verharrte Peter Greulich im Keller. Eine Bombe schlug so dicht am Haus ein, dass das ganze Gebäude wackelte. Greulich schildert seine Erinnerungen. Er hatte Angst um seinen Großvater, der die Wohnung im 3. Stock nicht verlassen konnte.
Das Foto zeigt amerikanische Bomber im 2. Weltkrieg am Himmel. Aus den Flugzeugen fallen unten Bomben heraus.
An die Luftangriffe der Alliierten hat der 84-Jährige Peter Greulich bis heute Erinnerungen© imago / StockTrek Images
Als später die Amerikaner die Stadt einnahmen, fiel ihm eine Patrouille amerikanischer Soldaten auf. Ihre Stiefel waren so leise, weil sie Kreppsohlen hatten, erzählt Greulich beeindruckt. Die Stiefel der deutschen Soldaten waren eisenbeschlagen und knallten regelrecht, erzählt er.

Teil 2: Der Fahrradreifen auf sandigem Aspalt

Christian saß als Kind immer auf dem Kindersitz am Fahrrad seiner Mutter. Sie brachte ihn morgens mit dem Rad in den Kindergarten. Ihr Weg führte über sandige Wege und asphaltierte Straßen. Wenn noch Sand am Fahrradreifen klebte und sie auf dem Asphalt fuhren, knirschte der Sand zwischen Reifen und Straße. An dieses Geräusch denkt Christian oft zurück, wenn er an seine Kindheit denkt.
Landstraße dicht über dem Asphalt. Links steht ein Baum. Neben der Straße sind Felder und Wiesen erkennbar.
Drei Kilometer führte der Weg zu Christians Kindergarten über sandige Wege und asphaltierte Straßen. (Symbolbild)© imago / Chromorange
Christian hat sich morgens immer auf den Kindergarten gefreut. Im dem Kindergarten einer brandenburgischen Kleinstadt gab es zwar viele Schaufeln, aber nur eine einzige, die richtig gut war. "Das Problem war Rocco", sagt Christian und lacht. "Rocco war viel schneller als ich." Rocco bekam fast jeden Tag die gute Schaufel - bis Christian anfing zu trainieren.

Teil 3: Das Knarren der Treppe in Nandas Elternhaus

Nanda wuchs in der Nähe von Braunschweig auf. In ihrem Elternhaus gab es eine alte Holztreppe. Bei jedem Schritt knarrten die einzelnen Stufen. Das Knarren war aber sehr unterschiedlich, je nach dem, wer gerade die Treppe hinauf oder herab ging. Ihre Mutter ging immer sehr achtsam, ganz anders als ihr Vater, erinnert sie sich.
Stufen einer alten Holztreppe
Am Knarren der Treppe in ihrem Elternhaus konnte Nanda erkennen, wer gerade hinauf oder herunter ging.© imago / Chromorange
Mit ihrem Bruder spielte Nanda in der Nähe der Treppe. Eines Tages fiel sie in einen Schlafsack gehüllt die Treppe hinunter und kam als Knäuel unten an. "Wenn ich heute aus einer Vogelperspektive auf diesen Moment blicke, dann höre ich mich nach meiner Mutter schreien und ich höre meinen Bruder lachen." Ihre Mutter war sehr besorgt um sie. Dieses Gefühl kann Nanda mittlerweile nachvollziehen, denn auch sie hat einen kleinen Sohn und auch in ihrem Haus gibt es eine Treppe.

Teil 4: Sommer auf Long Island

Wenn Danielle an ihre Kindheit denkt, hat sie Erinnerungen an den Sommer auf Long Island. Sie wuchs in der Nähe von New York, auf Long Island, auf. Dort gibt es beschauliche Kleinstädte und schöne Vororte. In den Vorgärten der oft großen Häuser wächst ein Teppich aus grünem Rasen. An den Straßen stehen Ahornbäume, Platanen und Eichen. Besonders an den warmen Sommerabenden, wenn die Orte zur Ruhe kommen, liegt über allem das Zirpen der Zikaden. Dieses Geräusch verbindet Danielle bis heute mit ihrer Kindheit.
Kinder und Betreuer paddeln in Kanus auf einem See in einem Wald.
Danielle erinnert sich ans Paddeln mit anderen Kindern im Ferienlager. © imago / Zuma Wire
Die Sommerferien in Amerika dauern zehn Wochen, von denen Danielle acht Wochen mit Freundinnen im Ferienlager verbrachte. Sie paddelten, badeten und feierten Partys, bei denen sie sich die Beine rasierten. "Wir waren Pre-Teens, aber wir wollten uns ein bisschen erwachsener fühlen", erzählt sie.

Teil 5: Knäckebrot, Kaninchen und ein Schock

Das Knacken, Knistern und Knirschen, das beim Zerbröseln von Knäckebrot entsteht, hat Astrid im Ohr, wenn sie an ihre Kindheit denkt. Astrid wuchs in einem kleinen Dorf auf. Ihre Familie hatte ein großes Haus mit einem großen Garten. Als Kind hatte Astrid mehrere Haustiere, darunter Meerschweinchen und auch zwei Kaninchen. Das Knäckebrot hat sie zerbrochen - erst in zwei Hälften, dann in immer kleinere Stücke. Damit hat sie ihre zahlreichen Tiere gefüttert.
Mehrere Scheiben Knäckebrot liegen nebeneinander und aufeinander auf einer roten Unterlage.
Astrid hat ihre Kaninchen und Meerschweinchen am Knäckebrot knabbern lassen. Das Geräusch begleitet sie bis heute.© picture-alliance/ dpa / Lehtikuva Ismo Pekkarinen
Zu ihren beiden ersten Tieren hatte Astrid eine besondere Beziehung. Tottis und Krulleck waren zwei kuschelige Hauskaninchen. Sie lebten in einem Häuschen, das Astrids Vater aus Holz und Maschendrahtzaun gebaut hat. Astrid nahm das Knäckebrot und setzte sich zu den beiden Kaninchen in das kleine Häuschen und fütterte sie. Als Astrid irgendwann mal nach Hause kam, waren Tottis und Krulleck nicht mehr da. Das hat viel mit Onkel Rudi zu tun, der zu Besuch war.

Teil 6: Das Aufschließen der Haustür

Jutta ist 74 Jahre alt und eine "echte Berlinerin", wie sie sagt. Als Kind war sie nachmittags oft mit ihrem Bruder allein in der Wohnung. Wenn sie das Aufschließen der Tür hörten, wussten sie, dass ihr Stiefvater nach Hause kommt. "Obwohl es jeden Tag das Gleiche war, war es so ein schreckliches Gefühl oberhalb der Brust", sagt Jutta. Bis heute erzeugt dieses Geräusch bei ihr Beklemmungen.
Ein Schlüssel steckt im Schloss einer Tür. Seitlich einfallendes Licht erzeugt unheimliche Schatten.
Jutta bekommt auch mit 74 Jahren noch Beklemmungen beim Geräusch des Aufschließens der Wohnungstür. Das hat mit ihrem Stiefvater zu tun.© imago / Birgit Koch
Nach der Trennung ihrer Eltern lernte Juttas Mutter Heinz kennen. Jutta war damals sieben Jahre alt. Dass ihre Mutter Heinz geheiratet hat, fand Jutta schlimm. "Mit Kindern konnte der gar nicht", erinnert sich Jutta. Er habe so einen kommandierenden Ton gehabt.
Sie erklärt sich das damit, dass Heinz im Krieg auf einem U-Boot gedient hat und erst in den 50er-Jahren spät aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Jutta rebellierte und ihr Streit mit Heinz eskalierte. Beim Aufschließen einer Tür kommen in Jutta all' diese Erinnerungen in ihr hoch – und das beklemmende Gefühl ist auch mit 74 Jahren noch da.
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