Zgorzelec boomt, Görlitz kriselt

    Von Patrick Wellinski · 07.05.2013
    Früher waren sie einmal eins: Die 1945 geteilte Stadt präsentiert sich deshalb gerne als Europastadt. Doch das mit der Einheit sagt sich so leicht; links und rechts der Neiße sind die Unterschiede deutlich spürbar. Häufig hört man vom jungen und boomenden polnischen Teil, wohingegen das herausgeputzte Görlitz an Abwanderung und Überalterung leiden soll.
    Ein Konzert in der östlichsten Gastronomie Deutschlands. In Görlitz. Auf einer steinumfassten Terrasse direkt an der Neiße sitzen knapp 50 junge Menschen und lauschen den schlichten Klängen. Robert Bienas, roter Filzhut, weiße Flipflops, Cordjackett, hat den Pianisten Martin Kohlstedt hier her geholt. Bienas, gebürtiger Görlitzer, organisiert solche Veranstaltungen bewusst auf der deutschen Seite und nicht im gegenüberliegenden Zgorzelec.

    "Ich möchte kein Vorurteil haben. Meine Erfahrung ist einfach die, dass Zgorzelec einfach eine junge, dynamische Stadt ist, die sich aber sehr – meine Meinung – an Konsum und an Charts und hip sein orientiert. Und ich glaube, das was hier gerade passiert ist einfach Tiefgang."

    Von der Terrasse aus blickt Bienas auf die herausgeputzte Uferpromenade von Zgorzelec. Dort hat sich in den vergangenen Jahren die Oberfläche verändert.

    Eine halbe Stunde zu Fuß in Richtung Osten, am Rande von Zgorzelec steht das PLAZA. Ein modernes Einkaufszentrum wie eine amerikanische Mall. Frisch auf die grüne Wiese gebaut. Geschäfte, Kino, Disco, ein Fitnesscenter. In Sichtweite: die nächsten zwei Konsumpaläste dieser Art. Das alles ist erst in den letzten Jahren entstanden.



    Isabela Brandis wurde in Zgorzelec geboren. Nach der EU-Osterweiterung ging sie in den Westen. Letztes Jahr kam sie zurück und hat eine veränderte Geburtsstadt vorgefunden.

    "Es hat mich schon erstaunt wie schnell in Zgorzelec Infrastrukturprojekte hochgezogen worden sind. Zwei große Galerien und Einkaufshäuser sind entstanden. So was gab es davor nicht. Also wirtschaftlich hat sich dahingehend schon einiges getan. Es gibt neue Jobs. In Görlitz hingegen ist alles so wie ich es kannte. Es hat sich nicht verändert."

    Görlitz schläft, Zgorzelec boomt. So einfach ist die Gleichung aber nicht. Beide Städte haben Probleme mit der Abwanderung, junge Leute ziehen weg. Isabela Brandis betrachtet die Veränderungen ihrer Heimatstadt Zgorzelec daher skeptisch. Sie wohnt deshalb im beschaulichen Görlitz.

    "Auf der polnischen Seite findet gerade die Jagd nach dem schnellen Geld statt. Überall blüht der Kommerz. Viele ticken nach dem Motto: Was kann man verkaufen, um etwas zu verdienen. Wohingegen in Görlitz der Fokus sich stark auf die Kunst und Kultur verlagert. Es geht hier nicht mehr darum Kasse zu machen, sondern etwas zu bewahren. Diese Stadt lebt davon: von der Kultur, dem Tourismus, der Kunst."

    Touristen sind schon da, junge Macher entdecken die Gegend gerade für sich. In diesem Umfeld entstand auch die Idee für das Startup von Tobias Schlüter. Er plant ein grenzübergreifendes Car-Sharing-Projekt und sieht in den strukturellen Schwächen der Region Potential für junge Gründer.

    "Dadurch, dass es so gesellschaftliche Reibungspotenziale gibt, ergeben sich eben auch Möglichkeitsräume. Und das ist sozusagen das Spannende, wo Leute die Möglichkeit haben zu sagen: Na gut, das Bisherige funktioniert nicht, wir müssen es einfach anders machen und dieses Anders ist eben das Ausprobieren und Austesten, und das ist halt so die Perspektive, dass man hier noch mit gestalten kann und eben Dinge gestalten kann, die woanders nicht funktionieren."

    Tobias Schlüter ist ein umtriebiger Typ. Um polnisch zu lernen zog er als Student nach Zgorzelec. Doch er kam wieder zurück auf die deutsche Seite – um Geld zu sparen. Die Miete einer Drei-Zimmer-Wohnung ist hier im Schnitt 100 bis 150 Euro günstiger. Jetzt wohnt der Vater von bald drei Kindern in einem sanierten Görlitzer Altbau im Zentrum. Ganz im Sinne der Stadtplaner. Sie wollen mit attraktivem Wohnraum die Innenstadt wiederbeleben. Auch Einkaufen soll hauptsächlich im Zentrum möglich sein, wie Oberbürgermeister Siegfried Deinege sagt.



    "Der Fokus liegt tatsächlich in der Frage, wie beleben wir unsere Handelsstrecke Görlitz im Zentrum. Wie schaffen wir es, die Attraktivität dieser schönen Stadt zu verbinden mit gutem Handel und auch niveauvollem Handel."

    Trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten: Die Hoffnung "Europastadt" zu werden, haben viele Menschen auf beiden Seiten der Neiße. Robert Bienas auch. Am Rande seines Konzerts, am Ufer des Grenzflusses, formuliert er sie:

    "Spannend ist es, wenn Görlitz und Zgorzelec irgendwann wirklich eine Europastadt werden. Mit einem Zentrum und Austausch, Kommunikation. Und unsere Kinder haben dort die größten Chancen, dass da Normalität einkehrt in diesem Verhältnis."

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