„Screenshots“ von Paul Frosh

Digitale Wiedergänger der Fotografie

41:33 Minuten
Die berühmtesten Tweets von US-Präsident Trump befinden sich am 16.06.2017 in New York in der "The Donald J. Trump Presidential Twitter Library" hinter Glas und im Goldrahmen.
Der "covfefe"-Tweet des US-Präsidenten hat sich 2017 sich rasend schnell im Netz verbreitet. © AFP / Getty Images / Drew Angerer
Annekathrin Kohout und Peter Geimer im Gespräch mit René Aguigah · 05.01.2020
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Von der Reiseplanung bis zum Trump-Tweet: Screenshots dienen der Dokumentation. Der Kulturtheoretiker Paul Frosh erkennt darin nicht nur ein Gegenmittel zur digitalen Verflüssigung, sondern auch eine Wiederauferstehung der analogen Fotografie.
Unter den ohnehin berüchtigten Tweets des US-Präsidenten hat es dieser eine zu besonderer Berühmtheit gebracht: Im Mai 2017 twitterte Trump spätnachts eine ominöse Nachricht, die nach der üblichen Medienschelte in dem nicht existierenden Wort "covfefe" gipfelte.
Der Tweet selbst war wenige Stunden später gelöscht. Aber da hatten zahlreiche Twitter-User bereits ein Bildschirmfoto davon gemacht, das sich rasend schnell im Netz verbreitete und Medien-Profis wie Laien tagelang dazu brachte, halb ernst über mögliche Interpretationen des Wortes zu rätseln.

Beweise gegen die digitale Vergesslichkeit

Mit diesem Fallbeispiel steigt der britische Kommunikationswissenschaftler Paul Frosh in seinen Essay über "Screenshots" ein, der jüngst in der Reihe "Digitale Bildkulturen" im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen ist. Frosh interessiert sich dabei weniger für den Tweet selbst, als vielmehr für die Funktion, die Screenshots bei seiner Verbreitung gespielt haben. Und zwar im Kontext einer digitalen Welt, die entgegen der landläufigen Meinung ziemlich vergesslich ist, wie die Mitherausgeberin Annekathrin Kohout unterstreicht:
"Die sozialen Medien stellen eine Welt dar, in der der es überhaupt erst notwendig ist, Bilder zu machen, die an etwas erinnern, etwas beweisen, etwas 'dokumentieren'."
Anhand des Trump-Tweets erweise sich die dokumentarische Funktion des Screenshots, die über eine bloße Wiedergabe des Inhalts hinausgeht – schließlich hätte man den Text des Tweets auch einfach zitieren können, wie der Kunsthistoriker Peter Geimer betont:
"Indem ich aber den Screenshot zeige, führe ich ein Dokument vor und sage: Es geht nicht nur um die Information, sondern hier könnt ihr Donald Trump sehen mit seinem Tweet und da steht dieses Wort."

Der Rahmen suggeriert Echtheit

Darin erkennt Geimer eine "Performanz des Realen". So wird in Screenshots, vor allem aus sozialen Medien, fast immer der Rahmen mit abgebildet – im Falle des Tweets das Fenster der App, die Anzahl der Follower, der Retweets und so weiter. Dieser Rahmen habe die Funktion, Authentizität zu suggerieren, wie Kohout in Anlehnung an Frosh vermutet:
"Man screenshottet immer auch den Kontext mit, weil man dann noch stärker das Gefühl hat, dass es echt ist."
Indem der Screenshot aus der digitalen Bilderflut eines herausgreift und reproduzierbar macht, steht er völlig im Kontrast zum sonstigen Trend zur Verflüssigung, der mit der Digitalisierung oft assoziiert wird, wie Paul Frosh herausarbeitet. Diese "Stillstellung" der Bilder erleichtere zwar einerseits ihre Manipulation, wie Kohout zu bedenken gibt, aber verstärke zugleich den Beweischarakter des Screenshots: So wisse man zwar, "dass man einen Screenshot natürlich bearbeiten kann, aber er erzeugt nichtsdestotrotz eine ungeheure Glaubwürdigkeit."

Rache der analogen Fotografie

Gerade in dieser Zwiespältigkeit zeigt sich die Verwandtschaft des Screenshots zur analogen Fotografie, eine der zentralen Thesen Froshs: Der Screenshot sei eine "Rache der analogen Fotografie an der digitalen", wie Peter Geimer ausführt:
"Als die digitale Fotografie aufkam, gab es ganz viele Überlegungen: Das Zeitalter der Fotografie ist jetzt vorbei, wir leben jetzt im Digitalen, alles ist manipulierbar, kein Mensch glaubt mehr daran, was auf einem Bild zu sehen ist. Und er sagt: So stimmt das nicht: Weil ganz viel von dem, was die Fotografie 150 Jahre lang ausgezeichnet hat, überlebt, auch im Digitalen."
Und Kohout ergänzt: "Es ist wie ein Gespenst, ein Wiedergänger: Die analoge Fotografie kehrt eigentlich in veränderter Form wieder." Diese "Remediation" findet sich auch in der Nachahmung einer analogen Ästhetik, etwa des "Klickens" bei der Bildaufnahme: "Das hat überhaupt keine technische Notwendigkeit", betont Geimer, "sondern ist eine reine Idee, die sozusagen eine Aura des Fotografischen noch mittransportiert."

Screenshots als Reliquie

Ein bewegendes Beispiel dafür, wie der Screenshot Funktionen der Fotografie übernimmt, gibt Frosh anhand einer israelischen Soldatin, die 2017 bei einem Attentat ums Leben kam: Ihre Mutter hatte ihr kurz zuvor noch eine WhatsApp-Nachricht geschrieben, aber ein graues, statt eines blauen Häkchens zeigte an, dass ihre Tochter die Nachricht nicht mehr gelesen hatte. Ein Screenshot des Chatverlaufs landete später, als Bild der Trauer, auf mehreren Titelseiten.
"Im Grunde ist das ein letztes Bild, das zeigt, dass man auch im Netz leben und sterben kann", kommentiert Geimer: "Im Grunde ist das eine Art Reliquie. Hier sind wir bei einem ganz alten Phänomen: Der Rest von einer Person, die nicht mehr da ist und die in irgendeiner Weise etwas zurückgelassen hat, das sich manifestiert. Frosh zeigt: Diese Memorial- oder Gedächtnisfunktion kann es durchaus auch in den sozialen Medien geben."

Gäste dieser Sendung:
Annekathrin Kohout ist Bildwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Reihe "Digitale Bildkulturen" im Wagenbach-Verlag. 2019 erschien von ihr der zweite Band der Reihe über "Netzfeminismus". Daneben ist sie Herausgeberin der Zeitschrift "Pop. Kultur und Kritik" und arbeitet sie als freie Autorin für verschiedene Medien.
Peter Geimer ist Kunsthistoriker an der Freien Universität Berlin und Ko-Sprecher der DFG-Forschergruppe "BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik". Daneben schreibt er regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem das Buch "Theorien der Fotografie".

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