50 Jahre Universität Bielefeld

Auf den Spuren von Humboldt und Neil Young

54:51 Minuten
Studenten laufen durch die Haupthalle der Universität Bielefeld.
Studenten laufen durch die Haupthalle der Universität Bielefeld. Seit 50 Jahren besteht die Hochschule. © Picture Alliance/ dpa - Report/Oliver Krato
Moderation: Thorsten Jantschek und Ariane Binder · 08.09.2019
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Es gibt Bielefeld wirklich. Das beweisen vier Wissenschaftlerinnen der Universität Bielefeld auf dem Blauen Sofa. Sie erklären, warum Neil Young einen Nobelpreis verdient hätte und der Geschichte der Sinti und Roma mehr Anerkennung gebührt.
Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Universität Bielefeld nahmen in der Bielefelder WissensWerkStadt zwei ihrer Wissenschaftlerinnen und zwei Wissenschaftler Platz auf dem Blauen Sofa, dem gemeinsamen Autorenforum von ZDF, Deutschlandfunk Kultur, 3sat und Bertelsmann.
Thorsten Jantschek und Ariane Binder sprachen mit der Soziologin Elena Esposito, den Literaturwissenschaftlern Klaus-Michael Bogdal und Walter Erhart und der Historikerin Angelika Epple.

Unsicherheit als Ressource

Was passiert in unserer Gesellschaft, wenn Algorithmen einzelne Ereignisse oder einzelne Personen vorhersagbar machen und die Unsicherheiten der Zukunft mindern? Dazu forscht Elena Esposito, Professorin für Soziologie an der Universität Bielefeld und der Universität Bologna. Die Zukunft im Voraus zu kennen, sei nicht nur von Vorteil, so die Forscherin.
Elena Esposito sitzt auf dem Blauen Sofa mit Moderator Thorsten Jantschek
Elena Esposito schrieb ihre Promotion bei Niklas Luhman. Aktuell forscht sie zu algorithmischen Vorhersagen.© Mike-Dennis Müller
Tatsächlich sei für unsere Gesellschaft die Unsicherheit über die Zukunft auch eine Ressource. Verschiedene wirtschaftliche, staatliche und soziale Bereiche beruhten auf der Tatsache, dass niemand die Zukunft im Voraus kennen kann: Wir können nicht wissen, wer Schaden erleiden wird, krank wird oder Verbrechen begehen wird. Deshalb zahlten wir Versicherungsprämien und präventive Polizeiarbeit. Was aber passiert mit den stabilisierten Managementformen der Zukunft, wenn die gemeinsame Unsicherheit fehlt?

Geprägt von Faszination und Verachtung

In Bielefeld arbeitet man nicht nur an einer Vorhersage der Zukunft. Man wirft auch einen kritischen Blick auf die Vergagenheit. Der Professor für Germanistische Literaturwissenschaft Klaus-Michael Bogdal präsentierte sein Buch "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung". 2013 wurde er für sein Buch mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Laut Bogdal bezeichnete man sie als "geborene Diebe und Lügner" oder "unzähmbare Wilde". Gleichzeitig schwärmte man von der "schönen Zigeunerin" und bewunderte insgeheim das "Naturvolk". Der Blick auf die Sinti und Roma sei seit 600 Jahren geprägt von Faszination und Verachtung.
Klaus-Michael Bogdal sitzt auf dem Blauen Sofa mit Moderatorin Ariane Binder.
Klaus-Michael Bogdal präsentierte sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung"© Mike-Dennis Müller
Klaus-Michael Bogdals Werk untersucht die Darstellung der "Zigeuner" in der europäischen Literatur und Kunst vom Spätmittelalter bis heute, von Norwegen bis Spanien, von England bis Russland. Auf der Grundlage von neuen Quellen, frühen Chroniken, Artefakten sowie Holocaust-Erinnerungen erzählt Bogdal eine epochen- und genreübergreifende Geschichte der Sinti und Roma.

Von Lyrik zu Lyrics

Für Walter Erharts zählt Neil Young mit seiner hohen Stimme und seiner brachialen Gitarrentechnik neben Literaturnobelpreiträger Bob Dylan zu den wohl einflussreichsten Rock-Musikern aller Zeiten. Sei es mit seinen sagenumwobenen Bands "Crazy Horse" und "Stray Gators" oder solo mit Gitarre und Mundharmonika, lobt Erhart den Musiker und deutet an, dass Young vielleicht selbst den Nobelpreis verdient hätte.
Walter Erhart sitzt auf dem Blauen Sofa mit Moderator Thorsten Jantschek.
Walter Erhart präsentiert sein Buch "Neil Young".© Mike-Dennis Müller
Walter Erharts, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, zeichnet in seinem Buch diese Linien ebenso kompetent wie begeistert nach. Von den Jungen werde der Kanadier verehrt wie kein Zweiter. Sein Leben spiegele von Woodstock bis in die Gegenwart sowohl die musikalische als auch die gesellschaftliche Entwicklung Nordamerikas beispielhaft wider, so Erharts.

War Humboldt ein Rassist?

Die Geschichte der USA lässt sich nicht ohne das Thema Rassismus erzählen. Angelika Epple ist Professorin für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Bielefeld und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs "Praktiken des Vergleichens". Sie untersucht unter anderem, wie "Rassen" und andere Stereotype erzeugt werden und welche Rolle dabei das Vergleichen spielt. Sie stellte ihre Forschung "Humboldt, der Rassismus und die Kunst des Vergleichens" vor.
Angelika Epple sitzt auf dem Blauen Sofa mit Moderatorin Ariane Binder.
Angelika Epple stellt ihre Forschung „Humboldt, der Rassismus und die Kunst des Vergleichens“ vor.© Mike-Dennis Müller
Alexander von Humboldt sei bekannt für seine detailgenauen Vergleiche, die er als Naturforscher auf seinen Reisen um die Welt durchführte. In seiner Schrift über Kuba zeigte er sich aber auch als vergleichender Soziologe: Entsetzt vom Umgang mit den aus Afrika verschleppten Sklaven, unterlegte er seine humanitäre Argumentation mit Vergleichen, so Epple.
In den Vorlesungen zur vergleichenden Anatomie seines Göttinger Lehrers Johann Friedrich Blumenbach hatte er gelernt, dass alle Menschen zur gleichen Spezies gehörten. Zugleich freundete er sich auf Kuba mit dem Ökonomen und überzeugten Sklavenhalter Francisco di Arango y Parreño an, der ihn auf seine Vorzeigeplantagen einlud. Über Jahrzehnte hinweg standen die Gelehrten im Briefkontakt. Humboldt übernahm Arangos Auffassung, dass die Sklaverei nur allmählich abgeschafft werden sollte. In ihrer Arbeit stellt Epple die Frage, ob Humboldt doch von rassistischen Vergleichen geprägt war.
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