Der Wunsch nach Unsterblichkeit

13.07.2010
Wer braucht schon Religion, wenn es die Technik gibt? Denn mit Hilfe von Technik, Genforschung und Fitmachern in Pillenform könnte schon bald das ewige Leben im Diesseits möglich sein. Das meinen zumindest einige Wissenschaftler in "Werden wir ewig leben".
Der Mensch wird frei sein von allen Gebrechen. Zwergen-Roboter kreisen in seiner Blutbahn, reparieren schadhafte Gene und schenken Unsterblichkeit. Sie jagen Gedanken schneller durchs Hirn und fluten das Gedächtnis mit unbegrenzten Kapazitäten.

In ihrem Buch "Werden wir ewig leben?" loten der Autor Tobias Hülswitt und der Molekularbiologe Roman Brinzanik die Zukunft von Mensch und Technologie aus. Dazu präsentieren sie Interviews mit namhaften Hirnforschern, Genetikern, Theologen, Künstlern und Philosophen aus ganz Europa. Die männliche Form ist hier keine Nachlässigkeit: Eine Frau hat tatsächlich keinen Eingang in die Runde der Propheten gefunden.

Zum Auftakt erläutert der amerikanische Erfinder und Futurist Ray Kurzweil seine Utopien: Weil sich die Rechenleistung von Computern ständig verdoppele, erreiche unsere Kultur schon in naher Zukunft eine "Singularität", meint er. Dann explodiere das technologische Wissen, indem Maschinen ihre Weiterentwicklung eigenständig und mit exponentiellem Erfolg betrieben. Ein ewig lebendes Mensch-Maschine-Amalgam werde danach alle Sternensysteme besiedeln. Vorerst schluckt Kurzweil 250 Fitmacher-Tabletten täglich, um bis dahin durchzuhalten.

Visionäres Leitbild für technische Innovationen - oder Schreckenspanorama, das durch eine wache Gesellschaft abgewehrt werden muss? Indem sie all ihre Gesprächspartner auf Ray Kurzweils Unsterblichkeitsfantasien Bezug nehmen lassen, schaffen die Autoren ein Geflecht an Beinahe-Dialogen, fast als säßen die Interviewten gemeinsam in einem Raum.

Begeistert zeigt sich der niederländische Digital-Künstler Daan Roosegaarde. "Plug me in, Baby", ruft er und wäre sofort dabei, wenn er mit technischer Hilfe 400 Jahr alt werden könnte. Der Physiker und Hirnforscher Ad Aertsen sieht den Einsatz von Minirobotern bescheiden im Bereich der Prothetik, für Menschen mit beschädigtem Seh- oder Hörsinn. Für völlig unrealistisch hält Wolf Singer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, die Idee, eines Tages das menschliche Gehirn nachbauen zu können: Das Gehirn braucht den Körper, um zu lernen, das wissen Hirnforscher heute. Und der belgische KI-Experte Luc Steels erklärt lachend, die ewige Zukunft von Robotern werde banal an mangelhafter Batterieleistung scheitern.

Spannend mäandern die Gespräche zwischen Wissen, Spekulation und Zweifel. Nebenbei lässt sich eine Menge lernen: über den aktuellen Stand der Künstlichen Intelligenz und neue Wege in der Stammzellenforschung, über die Unterschiede zwischen neuronalen Netzwerken und Computerschaltkreisen, über die neueste Hundertjährigenstatistik und die psychologischen Implikationen von Liebesbeziehungen, die mehrere Jahrhunderte halten sollen. Die komplexe Wucht des wirklichen Lebens aber bricht nur selten in die Gespräche ein. Als der katholische Priester Friedrich Mennekes ein Gedicht von Paul Celan zitiert und eröffnet, er sei krebskrank - da ist sie für einen Augenblick präsent.

Über die Autoren:
Roman Brinzanik, 1969 in der Tschechoslowakei geboren, studierte Physik und Philosophie in Frankfurt am Main und Berlin. Nach seiner Doktorarbeit auf dem Gebiet komplexer Systeme und der Nanophysik wechselte er zur Computational Biology und arbeitete am Weizmann Institute of Science in Israel. Heute ist er Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin und forscht auf dem Gebiet der Systembiologie unter anderem an den molekularen Ursachen von Krebs und Fettleibigkeit. Er gehört dem Korsakow Institut für Nonlineare Erzählkultur an.

Tobias Hülswitt, 1973 in Hannover geboren, ist freier Autor. Er veröffentlichte mehrere Romane und ein Kinderbuch. Er arbeitete als Dozent an der Universität der Künste Berlin, an der Akademie der Künste München und als Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Florian Thalhofer gründete und betreibt er das Korsakow Institut für Nonlineare Erzählkultur.

Besprochen von Susanne Billig.

Roman Brinzanik, Tobias Hülswitt: "Werden wir ewig leben? - Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie",
Übersetzungen von Elsa Pavel und Christine Adam,
edition unseld, Suhrkamp Verlag 2010, 307 Seiten, 15 Euro