Der Wohltäter von Le Chambon

Geschichte einer großzügigen Erbschaft

07:23 Minuten
Alte Fotos und ein Ausweis liegen auf einem Tisch.
Ausweis, Kinder- und Jugendfotos von Erich Schwam: Wer ist der Mann, der dem kleinen Ort Le Chambon-sur-Lignon fast sein ganzes Vermögen vererbt hat? © Deutschlandradio / Philip Artelt
Von Philip Artelt · 26.07.2021
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Ein stiller Wohltäter, dessen Vermächtnis nun doch in der Öffentlichkeit steht: Weil er als kleiner Junge dort den Holocaust überlebte, machte ein abgelegenes französisches Dorf nach dem Tod von Erich Schwam eine große und unerwartete Erbschaft.
"Der Notar hat angerufen und uns um ein Treffen gebeten. Wir sind dann mit dem Bürgermeister zu diesem Haus gefahren. Dort hat uns der Notar gesagt: Sie sind jetzt bei sich zu Hause", erzählt Denise Vallat.
Was würden Sie tun, wenn Sie gerade drei Millionen Euro geerbt hätten? Ein Haus in einem Vorort von Lyon, eine Wohnung, ein prall gefülltes Konto: Das alles gehört jetzt Ihnen. Wie würden Sie sich fühlen?

"Im Eingang hing noch sein Mantel"

"Wir sind in das Haus gegangen. Alles war noch so, wie er es verlassen hat, als er ins Krankenhaus ging. Im Eingang hing noch sein Mantel. Ich habe mir gesagt: Wir müssen uns von unseren Emotionen freimachen, ungefähr so wie ein Ermittler."
Denise Vallat ist Kulturbeauftragte von Le Chambon-sur-Lignon. Das Örtchen, zweieinhalbtausend Einwohner, mitten im Nirgendwo am Eingang zu den Bergen der Ardèche, hat gerade geerbt. Erich Schwam hat fast sein ganzes Vermögen der Gemeinde hinterlassen. Drei Millionen Euro.
Denise Vallat steht vor einem Tisch voller Akten.
Ein ganzes Leben in Dokumenten liegt auf dem Tisch von Denise Vallat,© Deutschlandradio / Philip Artelt
Wer war dieser Mann? Seit einem halben Jahr versucht Denise Vallat diese Frage zu beantworten. Auf dem Tisch im Rathaus von Le Chambon hat die ehemalige Geschichtslehrerin Aktenordner ausgebreitet, all das Zeug, was sie und ihre Kollegen aus dem Haus geholt haben. Ein ganzes Leben liegt vor ihnen. "Wir haben diesen Umschlag gefunden: Österreich, alte Papiere."
Erich Schwam wird 1930 in Wien geboren. Sein Vater: ein jüdischer Mediziner. Seine Mutter: eine Jüdin aus Galizien in der heutigen Ukraine. 1939, kurz nach der Reichspogromnacht, beschließt die Familie, mitsamt Erichs Großmutter nach Belgien auszureisen – mit einem Alibi-Visum für Schanghai.

Im französischen Bergland den Holocaust überlebt

1940 greift die Wehrmacht Belgien an. Für die Schwams beginnt eine Odyssee durch Frankreich. Wie die Familie von dem Örtchen Le Chambon-sur-Lignon erfährt, ist nicht abschließend geklärt. Aber es ist ihr großes Glück. Während die Schwestern von Erichs Mutter in Auschwitz umgebracht werden, sind die Schwams in – relativer – Sicherheit.
Le Chambon-sur-Lignon: Die Gegend auf einem Plateau am Flüsschen Lignon ist im 16. Jahrhundert Zufluchtsort für die protestantischen Hugenotten. Bis heute ist der Ort eine Insel des Protestantismus im ansonsten erzkatholischen Frankreich. Diese Außenseiterrolle, die Abgeschiedenheit im Bergland und die Bemühungen von André Trocmé, einem radikal-pazifistischen Pfarrer, lassen Le Chambon im Zweiten Weltkrieg ein weiteres Mal zum Zufluchtsort werden: diesmal für mehr als 2000 Juden.

In ganz Frankreich gibt es Orte, an denen hilfsbereite Menschen Juden vor den Nazis verstecken. Dass in Le Chambon so viele Schutz finden, ist einer weiteren Besonderheit des Ortes zu verdanken: Schon vor dem Krieg gab es hier Unterkünfte für Arbeiterkinder aus dem Tiefland, die ihren Sommer in der guten Bergluft verbrachten. Es gab eine touristische Infrastruktur; die Menschen waren schon auf Gäste vorbereitet.
Erich Schwam kommt in ein Kinderheim, das während des Krieges die Hilfsorganisation Secours Suisse betreibt. Erichs Mutter kommt im selben Haus unter, wird aber als Mitarbeiterin getarnt. Der Vater, als jüdischer Mann besonders gefährdet, bleibt nicht bei der Familie, er versteckt sich auf einem abgelegenen Bauernhof in der Gegend.
Ein altes Haus in Le Cambon, in dem das das Kinderheim war, in dem Erich Schwam seine Kindheit während des Krieges verbrachte. Jetzt wird es von einem privaten Eigentümer renoviert.
In diesem Haus war das Kinderheim, in dem Erich Schwam seine Kindheit während des Krieges verbrachte.© Deutschlandradio / Philip Artelt
Was wussten die Behörden, was wussten die Nazis von den Aufständlern in Le Chambon? Der deutsche Kommandant im eine Stunde entfernten Le Puy schaute weg – vielleicht auch, weil er ebenfalls Protestant war, erzählt man sich hier.
Erst Jahre nach dem Krieg verlässt Erich Schwam Le Chambon, studiert Pharmazie, wird stellvertretender Direktor eines Pharmaunternehmens in Lyon. In Le Chambon sieht man ihn vielleicht noch ein einziges Mal. 2020 stirbt er und vermacht der Gemeinde überraschend sein Millionenvermögen.

Diskretes Treffen mit der damaligen Bürgermeisterin

Wer ist dieser Mann? Es gibt eine Person, die ihn getroffen hat. Eliane Wauquiez, ehemalige Bürgermeisterin von Le Chambon. Vor etwa sieben Jahren bekommt sie einen Anruf im Rathaus. Ein gewisser Erich Schwam möchte sie wegen einer Spende für die Gemeinde sprechen. Wauquiez trifft ihn in dem Haus bei Lyon, jenem Haus, das jetzt der Gemeinde gehört.
"Es war ein Haus ohne jegliche Besonderheit. Einfach, aber nett gelegen. Er hat mich sehr freundlich empfangen, aber auch ohne große Umstände. Seine Frau hat quasi nicht gesprochen, sie hat uns nur Tee serviert", erinnert sie sich.
Erich Schwam erzählt ihr in aller Kürze, dass er in Le Chambon während des Krieges die Schule besuchen durfte. Dass er kinderlos sei, dass er sein Vermögen an die Gemeinde vermachen möchte. Eine Summe erwähnt er nicht – Frau Wauquiez denkt an etwa 600.000 Euro.
Ein Notar wird beauftragt. Aber dann hört sie jahrelang nichts mehr von dem geheimnisvollen Mann. Wauquiez glaubt, er habe sich anders entschieden. Sie wahrt die Diskretion. Fast niemand erfährt von den Geschehnissen.
Am Ende ist selbst sie überrascht, als das Testament eröffnet wird: drei Millionen Euro. "Jeder fragt mich heute: Eliane, warum hast du nicht genauer nachgefragt? Ich hatte aber das Gefühl, dieser Mann will nicht, dass man ihm Fragen stellt. Er war sehr diskret und zurückhaltend. Ein bisschen wie die Menschen vom Land."

"Er spricht nicht mal von der Rettung der Juden"

Selbst das Testament zeugt von Erich Schwams Diskretion. Denise Vallat kramt ein letztes Mal für heute in den Unterlagen. "... als Dank für die Bildung, die mir die Menschen haben zukommen lassen. Die Bildungschancen! Er spricht nicht mal von der Rettung der Juden. Für ihn war es die Rückkehr in die Schule."
Erich Schwam möchte, dass das Geld für die Jugend verwendet wird. Verbindlich festgeschrieben ist das nicht, aber in Le Chambon wollen sie einen Teil des Geldes für Stipendien verwenden. Damit auch andere Kinder vom Land in den Städten des Tieflandes studieren können. So, wie Erich Schwam.
Denise Vallat treibt aber noch etwas anderes um. Die Journalisten, die von Frankreich bis Argentinien über die Geschichte berichten.
"Wir haben die Angelegenheit nicht an die große Glocke gehängt", sagt sie. "Und plötzlich kommen die Journalisten von überall. Und jedes Mal stelle ich den Journalisten die Frage: Warum kommen Sie hier her? Es gibt doch auch andere wohltätige Personen. Warum finden Sie ausgerechnet diese Geschichte so wichtig und spannend?"

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