Der Wochenrückblick von Arno Orzessek

Die Münchner Aufführung von Mozarts Don Giovanni erntete die schönsten Verrisse im Feuilleton. Der Tod des Anthropologen Claude Lévi-Strauss beschäftigte nahezu alle Blätter. Und die Erinnerungen an den Wendeherbst '89 werden langsam Legion.
Mit der schönsten Feuilletonseite der Woche tat sich gleich am Montag die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG hervor.

Unter einem grandiosen, hoch aus der Luft geschossenen Sonnenaufgangsfoto, auf dem sich zwischen Docks und ragenden Krähnen, Schiffen und erwachender Betriebsamkeit die Wasser des Hamburger Hafens lavafarbig ergießen, schrieb der Biochemiker Gottfried Schatz über den "lebensspendenden Strom" – nämlich die Energie des Sonnenlichts.

"Wir Menschen haben uns in der Warteschlange für Sonnenenergie schon früh nach vorne gedrängt: mit der Zähmung des Feuers erschlossen wir uns die Sonnenenergie, welche Licht-verwertende Lebewesen über Jahre oder gar Jahrmillionen gespeichert hatten."

Die Sonnen-Reflexionen von Gottfried Schatz hatten keinen erkennbaren Anlass. Angesichts der waltenden Herbstfinsternisse dürfte die bebilderte NZZ-Seite trotzdem vielen gefallen haben.

Schlecht, sehr schlecht fand die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG zu Wochenbeginn die Münchener Aufführung von Mozarts Don Giovanni.

"Es geht nichts zusammen an diesem Abend im Nationaltheater. Weder die Sänger noch Hausdirigent Kent Nagano noch Regisseur Stephan Kimmig schaffen es, Mozart zu einem Bühnenleben zu verführen."

Über dasselbe Ereignis schüttelte sich Julia Spinola in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG regelrecht:

"Auf der Münchener Bühne [ ... ] begnügt man sich mit ödesten Versatzstücken, Plattitüden und Klischees: Hose runter, Bluse auf, Beine auseinander. Die Frauen tun so, als hätten sie nichts anderes zu singen als: Befummle mich, bespring mich. Und die Männer scheinen nichts anderes im Sinn zu haben, als dieser Minimalanforderung gerecht zu werden."

Uns fällt hier der Begriff "primitiv" ein – aber man glaube nicht, dass damit die Überleitung zu Claude Lévi-Strauss, dem Ethnologen, der im Alter von 100 Jahren gestorben ist, schon geschafft sei.

Denn primitive Völker hat es für Lévi-Strauss im Grunde nicht gegeben. Er unterschied vielmehr "kalte" und "warme" Gesellschaften. Und er fand die warmen Gesellschaften, in denen sich die Ereignisse nur so jagen – darunter die westliche Zivilisation – gar nicht besonders beneidenswert. Das betonte Wolf Lepenies in seinem Nachruf in der Tageszeitung DIE WELT.

"Mit Skepsis blickte Claude Lévi-Strauss [ ... ] auf Gesellschaften, die an die Geschichte glauben und vom Fortschritt träumen. Seine Sympathie galt dem Urmenschen, nicht der Spätkultur."

Auf drei ganzen Seiten nahm die FAZ Abschied von Claude Lévi-Strauss. Henning Ritter beschrieb die planetarische Perspektive des greisen Forschers:

"Die letzten Blicke, die der hochbetagte Anthropologe auf das Schicksal der Menschheit warf, sind zwar frei von jeder Larmoyanz, aber doch von einem unüberbietbaren Pessimismus. Auf der Bahn, die die Menschen eingeschlagen hätten, ergäben sich so große Spannungen, dass die Intoleranz, die sich morgen durchzusetzen drohe, der ethnischen Unterschiede nicht mehr als eines Vorwandes bedürfen werde."

Falls es noch bewiesen werden musste, dass die Deutschen an die Geschichte glauben, der Claude Lévi-Strauss skeptisch gegenüberstand – die Feuilleton-Produktion der vergangenen Woche im Zeichen von "20 Jahre Mauerfall" ist dieser Beweis.

Bevor wir aber alles in schwarz-rot-gold tauchen, kurz ein Blick auf die Filme der Woche.

Die TAGESZEITUNG unterschied in ihrer Kritik von Ken Loachs "Looking for Eric", in dem das frühere Fußball-Raubein Eric Cantona mitspielt, zwischen mäßigem Drehbuch und gelungener Regie:

"Loachs Stil ist wie immer so uneitel, dass man auf die Idee kommen könnte, er habe keinen. Dabei bilden beim Briten Form und Inhalt eine perfekte Einheit: Alles ist bei ihm auf den Menschen ausgerichtet."

Nur zwei von fünf möglichen Punkten erhielt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Steven Soderberghs neuer Film The Informant!, der in manchen Blättern auch Der Informant! genannt wurde – übrigens in Deutsch wie in Englisch mit Ausrufezeichen. Alexandra Stäheli mäkelte:

"Schon allein das Ausrufezeichen im Titel wirkt verdächtig triumphierend, und tatsächlich spielt der Film auch von Beginn an mit gezinkten Hochstapler-Karten, indem er großzügig Genres zitiert, deren Regeln er letztlich doch nicht einzuhalten vermag."

Und damit zu unserer hiesigen Weltgeschichte: zum Mauerfall vor 20 Jahren.

"Des Zettels Traum" war am Montag der FAZ-Artikel von Stefan Aust beschrieben, der auf den Film "Schabowskis Zettel" am Abend Bezug nahm.

Und den Zettel mit den neuen Ausreisebestimmungen, den Pressesprecher Günter Schabowski am 9. November 1989 verlesen hatte, um dann, daraufhin befragt, die legendären Worte zu stottern: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich" ... , diesen vergilbten Zettel druckte die FAZ ab.

Am Dienstag analysierte der Kulturwissenschaftler Olaf Briese in einem FR-Interview die Ästhetik der Mauer:

"Die Bauweise ist schnörkellos, und das ist eine moderne architektonische Idee. Bauhausästhetik, kann man sagen."

Am Mittwoch bemerkte in selbiger FR der Schriftsteller Reinhard Jirgl zur deutschen Revolution vom Herbst 1989:

"Vor allem war es keine Revolution."

Am Donnerstag verteidigte Jirgls polnischer Kollege Andrzej Stasiuk in der WELT den polnischen Anteil am Zusammenbruch des Ostblocks:

"Wir haben uns nie mit dem Kommunismus abgefunden, wir haben auf den Barrikaden gekämpft, Blut vergossen, einen Untergrundstaat geschaffen wie im Zweiten Weltkrieg, und die Sieger waren am Ende die Deutschen."

Am Freitag provozierte Arno Widman - wiederum in der restlos Wende-verliebten FR:

"Es waren islamische, ja islamistische Kämpfer, die die Sowjetunion zu Fall brachten. Meinten wir es ehrlich mit unserer Freude und Dankbarkeit, was die Wiedervereinigung angeht, wir würden sie feiern in Afghanistan."

Den Samstag überschlagen wir, liebe Hörer. Sie haben die Wochenendausgaben ja noch zur Hand.

Im neuen SPIEGEL wird Jana Hensel "Über die Melancholie der Ostdeutschen im zweiten Leben" schreiben. Das Befinden der Ex-DDR-Bürger ist laut Hensel geradezu unheimlich:

"Es gleicht dem Gefühl, schon einmal gestorben zu sein."

Wir wollen hier, kurz vor dem großen Jubiläum, nicht nölen. Aber woher, bitte schön, weiß die SPIEGEL-Autorin Jana Hensel, wie man sich fühlt, wenn man schon einmal tot war?