Der Widerspruch der alternativlosen Entscheidung

Martin Haase im Gespräch mit Ulrike Timm · 10.05.2010
Die Entscheidung zum Euro-Rettungspakt sei alternativlos, heißt es von Seiten der Kanzlerin. Solche Wortverdrehungen kritisiert der Linguist Martin Haase, einer der Betreiber von neusprech.org. Denn: "Bei einer Entscheidung hat man immer Alternativen. Das ist eben das Wesen einer Entscheidung".
Ulrike Timm: "Was jemand willentlich verbergen will, sei es vor anderen, sei es vor sich selbst, auch was er unbewusst in sich trägt: Die Sprache bringt es an den Tag." Das sagte der Philologe Victor Klemperer und in diesem Sinne schufen der Philologe Martin Haase und der Journalist Kai Biermann die Internetplattform neusprech.org mit dem Ziel, die Sprachakrobatik von Politikern auf ihren Gehalt hin abzuklopfen und also damit auch auf Originalbedeutung zurechtzustutzen. Bevor wir vom Linguisten Martin Haase hören, wie das geht und was dabei herauskommt, Anja Mauruschat mit Einzelheiten.

Und ebenso alternativlos ist jetzt unser Gespräch mit dem Linguisten und Analysten von Politikersprache Martin Haase, denn er ist extra dafür in das Studio gekommen. Schönen guten Tag!

Martin Haase: Ja, guten Tag!

Timm: Alternativlos war das Wumm-Wort der vergangenen Woche und ist es auch heute. Der Rettungspakt für den Euro ist auch schon wieder alternativlos – kommt irgendwas dagegen an?

Haase: Ja, wahrscheinlich gar nichts. Also alternativlos ist natürlich so ein ganz typisch Hyperbelwort, also Hyperbel ist ein Fachbegriff aus der Rhetorik. Also es geht darum, dass eben etwas übertrieben dargestellt wird, und bei alternativlos ist es eigentlich ganz deutlich, denn es ging ja hier um Beschlüsse und Entscheidungen. Aber wenn Entscheidungen alternativlos sind, dann gab es ja gar nichts zu entscheiden, dann sind das auch keine Entscheidungen, denn bei einer Entscheidung hat man immer Alternativen. Das ist eben das Wesen einer Entscheidung. Eine alternativlose Entscheidung ist eigentlich das, was man einen schwarzen Schimmel, ein Oxymoron nennt, also ein Widerspruch in sich selbst.

Timm: Ist denn neusprech.org, das die Sprache von Politikern aufs Korn nimmt, aus purem Ärger entstanden?

Haase: So kann man es eigentlich nicht sagen. Also ich habe mich zunächst natürlich auch wissenschaftlich mit der Sprache von Politikern beschäftigt, allerdings eher in den romanischen Ländern. Also, es fiel ja auf schon am Ende der 90er, dass also gerade in der italienischen Politik die Fußballmetaphern sehr, sehr stark geworden sind. Ja, und dann ist mir eben aufgefallen, dass eben gerade nach dem 11. September, da beschäftigte ich mich gerade mit dieser Frage der Metaphern, gerade jetzt auch im Italienischen, dass man immer mehr solche hyperbolischen Ausdrucksweisen und eben auch zum Teil so beschönigende Ausdrucksweisen in der gerade der Frage der inneren Sicherheit in der deutschen Politikersprache findet. Da kam ja gerade die Diskussion auf über die sogenannte Vorratsdatenspeicherung, wo man sich gefragt hat, was, wieso denn Vorrat, oder Online-Durchsuchung, die weder online ist, noch eine Durchsuchung, sondern eben eine Computerüberwachung. Ja und das ...

Timm: Damit sind wir wieder bei den Wörtern, die Sie bei neusprech.org erst mal listen und dann kommentieren. Vorratsdatenspeicherung ist eigentlich mein Lieblingswort, das klingt so schön nach Eichhörnchenmethode vor hartem Winter.

Haase: Genau.

Timm: Haben Sie einen besonderen Favoriten?

Haase: Ja ich glaube, mein Favorit ist der Gefährder. Der Gefährder und dann eben sogar der potenzielle Gefährder. Also ein Gefährder, das ist eben eine Neuschöpfung, die die Innenminister hervorgebracht haben nach dem 11. September. Es ging eben darum, dass man präventiv eingreifen will, und zwar gibt es ja tatsächlich den juristischen Terminus des Störers und ein Gefährder ist jemand, der Störer werden könnte. Das ist eigentlich kein juristischer Terminus, weil wir ja eben kein Präventivstrafrecht haben, also kein vorsorgendes, und dann wurde also vom Gefährder gesprochen und das wurde dann noch mal – ja also ein Gefährder ist sozusagen ein potenzieller Störer –, und dann wurde dieser Gefährder noch mal zum Potenziellen, nämlich dann der potenzielle Gefährder, gegen den man vorgehen muss. Ja und ein potenzieller potenzieller Störer ist so potenziell, dass es ja fast jeder sein kann.

Timm: Sprachanalyse, auch Sprachwitz kommen bei neusprech.org zusammen. Über Ihre Sammelwut, die Sie auf dieser Website bereitstellen, haben Sie irgendwelche Leitlinien, irgendwelche Linien entdeckt, die bei Politikern hinter diesen Sprachschablonen ganz generell stehen, nicht nur hinter einzelnen Worten?

Haase: Na also es gibt zwei Leitlinien. Es gibt einmal die Leitlinie der Sicherheitspolitiker, gewisse Dinge abzuschwächen. Das haben wir bei der Online-Durchsuchung, da wird eben ein bekannter Begriff genommen wie Durchsuchung und auf was Neues übertragen – was eben keine Durchsuchung ist. Ähnlich auch mit dem genetischen Fingerabdruck: Den Fingerabdruck kennt jeder, das kennt man so aus über 100 Jahren Polizeiarbeit und dann ist eben plötzlich das eben ein genetischer Fingerabdruck. Obwohl das natürlich kein Fingerabdruck ist, sondern was anderes. Also diese Sache, dass man Dinge abschwächt durch bekannte Begriffe eigentlich, die umgedeutet werden.

Und das andere ist, die andere Tendenz, die jetzt gerade besonders deutlich wird auch in alternativlos, dass man halt übertreibt. Dass man halt Begriffe nimmt, die eben als hyperbolisch bezeichnet werden, die halt übertreiben, was man eigentlich aussagen will.

Timm: Was ist denn außer einzelnen Wörtern oder Begriffen noch wichtig, um Neusprech politisch zu kreieren?

Haase: Na ja, also es betrifft ja nicht nur die Wörter, sondern es betrifft zum Teil eben auch die Grammatik. Ganz bekannt, auch jetzt wieder in gewisser Weise eine Mode, obwohl es nicht neu ist, ist der Gebrauch des Pronomens wir, was sehr unklar verwendet wird, da weiß man nicht genau, wer ist jetzt eigentlich wir und wer soll sich mit wem dadurch identifizieren? Wir hatten das im Wahlkampf, im Europa-Wahlkampf schon mit "Wir in Europa" und dann "Wir haben die Kraft", die Kraft hatten dann plötzlich die anderen. Also das ist sehr interessant, wie hier mit dem wir gespielt wird. Also es sind nicht nur Wörter, sondern in diesem Fall eben, wir ist ja nun schon im Bereich der Grammatik, also ein Personalpronomen, das geht so ein bisschen über die Wörter hinaus.

Timm: Haben Sie eigentlich Stammkunden unter den Politikern, die dafür sorgen, dass neusprech.org jeden Tag ein bisschen umfangreicher wird?

Haase: Ja, also ich glaube, Wolfgang Schäuble ist jemand, der sehr viel Neusprech produziert. Vor allen Dingen seinerzeit als Innenminister, aber auch jetzt, wenn man seine Kommentare zur Griechenlandhilfe sieht, dann ist das auch oft mit solchen Bezeichnungen wie eben auch der Starke, das starke Rettungspaket oder auch solche hyperbolischen Ausdrücke finden sich dann immer wieder.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Linguistikprofessor Martin Haase über die Sprache von Politikern. Sie friemeln das jetzt alles so schön und auch genussvoll auseinander, trotzdem: Irgendwas müssen sie ja sagen, die Politiker, und welche Rolle spielen bei der Prägung ihrer Sprache eigentlich ihre Berater oder auch wir, die Presse? Sprich, wer macht da mit?

Haase: Die Presse greift das zum Teil auf. Also ich habe mir gestern noch mal ein paar Beiträge eben jetzt zu der aktuellen Version, der Neuauflage des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes angehört, und da kommen dann auch diese von den Politikern bereits verwendeten Termini eben dann auch von den Journalisten wieder. Also auf diese Weise kommt es eben wahrscheinlich auch zu dieser Konsensbildung, dass eben die andere Seite, die mit den Politikern sich auseinandersetzt, eben diese Wörter aufgreift und selber verwendet.

Timm: Analysieren ist das eine, besser machen was anderes. Können Sie sich vorstellen, dass ein Politiker ohne Neusprech, wie Sie das nennen, überhaupt Erfolg hätte?

Haase: Na ja, also das mit dem Bessermachen, das ist so eine Sache. Also ich möchte ja nicht sagen, dass es ohne solche Ausdrücke, die ja eine bestimmte Konnotation haben, eine die Gefühle ansprechende Nebenwirkung, dass es ohne die geht. Also das hat man natürlich immer. Und deshalb muss man eben auch sagen, es geht wahrscheinlich nicht ohne. Nur sollte halt solchen bestimmten Moden vielleicht entgegengewirkt werden, dass man halt immer wieder übertriebene Ausdrücke verwendet, weil sich dadurch natürlich etwas auch eventuell entwertet. Also es geht nicht ohne.

Timm: Haben Politiker denn schon neusprech.org abonniert?

Haase: Ja, das wissen wir nicht so genau, wer jetzt die Leser sind. Von den Kommentaren her sind es weniger die Politiker, die Neusprech produzieren, die hier kommentieren, sondern vor allen Dingen halt interessierte Leser, auch Journalisten, also eher andere, die auch mit Sprache zu tun haben natürlich, aber weniger bisher die Politiker. Aber das kommt vielleicht noch.

Timm: Aber was erhoffen Sie sich von dieser Plattform jenseits des Sich-Luft-Machens?

Haase: Na ja also schon das Bewusstsein für solche Sachen schaffen, auch so ein bisschen Bildung, ich meine ich muss mich ja nun auch um die Allgemeinbildung aller bemühen von Berufs wegen und das möchten wir schon unterbringen. Deshalb sind da ja auch Termini wie Metonymie oder Oxymoron, was wir jetzt auch hier verwendet haben, durchaus dort auch erläutert, damit eben ein gewisses Bewusstsein geschaffen wird. Und ich glaube, wenn alle Hörer so ein bisschen, oder Leser des Blocks dann so ein bisschen sprachbewusster aus der Sache wieder rausgehen, ist das auch eine Verbesserung.

Timm: Wenn Sie nach Alternativen zur Alternativlosigkeit suchen, dann schauen Sie mal nach bei neusprech.org, eingerichtet vom Linguisten Martin Haase, untersucht diese Internetplattform die Sprache von Politikern. Vielen Dank!

Haase: Danke schön!
Mehr zum Thema