"Der Westen hat an dieser Mauer mitgebaut"

Martin Walser im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.04.2011
Der Autor Martin Walser fühlte "Beklemmung" und Verlegenheit beim Streitgespräch der P.E.N.-Clubs aus der DDR und der Bundesrepublik 1961. Die Stimmung sei polemisch aufgeladen gewesen, denn der Kalte Krieg habe viele Vorverurteilungen erzeugt.
Dieter Kassel: Anfang der 1960er-Jahre gab es in Deutschland zwei Sektionen der internationalen Schriftstellervereinigung P.E.N., es gab zum einen den P.E.N. der Bundesrepublik, der war eindeutig zuzuordnen, und es gab den P.E.N. Ost und West. Mit dem war die Zuordnung weniger einfach, zumindest wenn man nur den Namen nahm. Denn es gab tatsächlich noch Westmitglieder in diesem P.E.N. Aber die meisten, vor allen Dingen die mächtigen Mitglieder, die kamen damals aus dem Osten und manch einer sagte, das Ganze werde von der SED gesteuert. Und zumindest richtig ist im Nachhinein die Zentrale dieses P.E.N., die war in Ost-Berlin. Und dieser P.E.N., der P.E.N. Ost und West, wollte im Dezember 1960 in Hamburg, im Westen, eine Versammlung abhalten, wollte diskutieren und er wollte einige Autoren auch lesen lassen dort.

Das hätte dann beinahe auch geklappt, hätte nicht im letzten Moment die Hamburger Polizei einen Hinweis bekommen und diesen Auftritt des P.E.N. Ost und West verhindert. Dieses polizeiliche Verbot hat damals für ziemlich harsche Reaktionen gesorgt, auch in weiten Teilen der Westpresse, und Gerd Bucerius, der damalige Herausgeber der "Zeit", der hat daraufhin gesagt, wenn das im Dezember 1960 nicht klappte, dann machen wir das '61 auf Einladung unserer Zeitung. Die "Zeit" lud dann die Ostschriftsteller nach Hamburg ein zu einem Streitgespräch mit Westkollegen. Und dieses Gespräch gab es tatsächlich, vor exakt 50 Jahren. Am 7. und am 8. April 1961 fand dieses denkwürdige Treffen Ost und West statt. Für die Ostautoren saßen dann unter anderem Arnold Zweig, der Dramatiker Peter Hacks und Stefan Hermlin auf der Bühne, für die Westautoren unter anderem Siegfried Lenz, Hans Magnus Enzensberger und der damals 34-jährige Martin Walser. Und Letzteren darf ich jetzt am Telefon begrüßen. Schönen guten Tag, Herr Walser!

Martin Walser: Ja, grüß Gott!

Kassel: Der Initiator, der Einladende, Gerd Bucerius, der Herausgeber der "Zeit" und damals auch CDU-Bundestagsabgeordneter, der hat im RIAS Berlin vor dieser Veranstaltung gesagt, ich zitiere wörtlich: "Wir wollen ein Streitgespräch. Wir wollen uns offen mit den Gästen aus der Zone auseinandersetzen, um wieder einmal die Überlegenheit unserer Auffassung des Lebens zu beweisen, von der wir überzeugt sind." Zitat Ende. Sind Sie tatsächlich mit dieser Absicht dann auch selber nach Hamburg gefahren?

Walser: Nein, natürlich nicht. Das ist so eine Formalität, nicht wahr, die man damals einfach wahrscheinlich geglaubt hat, dass man sie brauche. So genau kann ich nicht mehr sagen, mit welchen Gefühlen ich da nach Hamburg bin, aber das eine ist sicher: Dass ich das Gefühl hatte, ich weiß nicht, wie das gehen wird, und eine gewisse Beklemmung, weil ich das schon spürte, dass ich den erwarteten Frontbildungen, dass ich denen nicht entsprechen könnte. Das war meine Angst, da sind Kollegen, Hacks und Hermlin, mit denen ich mich doch jederzeit gut verstanden habe, wenn ich sie schon mal getroffen habe. Hermlin kam manchmal hier in die Nähe des Bodensees, und den Hacks habe ich auch irgendwo einmal getroffen, da hat man keine Probleme.

Dann waren ein paar andere dabei, die man damals Funktionäre nannte, und diese Beklemmung kommt daher, da gibt es Kollegen, Intellektuelle, deutsche Sprache hier, deutsche Sprache dort, und du bist verlegen, weil du weißt, es wird von dir eine Art gar nicht zu leistende Parteinahme erwartet oder vielleicht sogar gefordert, oder man könnte sich versprechen. Verstehen Sie, das internationale Vokabular für Ost und West war damals eben geladen mit den Unverständlichkeiten der gegenseitigen – des sogenannten Kalten Krieges. Und da war schon jede Berührung mit einem Ost-Menschen vorverurteilt. Das durfte man schon eigentlich nicht. Ich kann nur sagen, da bin ich sicher mit unguten Gefühlen nach Hamburg gefahren.

Kassel: Und was für eine Atmosphäre hat Sie dort dann erwartet?

Walser: Letztes Jahr ist mir in die Hände gefallen eine Aufzeichnung aus dem April von damals, 61, und als ich das gelesen habe, wurde mir wieder deutlich, was für eine blödsinnige Situation das gewesen ist. Man hat da so Themen gehabt: Einmal Tolstoi und zum anderen dieses P.E.N.-Ost-West-Verhältnis. Und bei Tolstoi, da habe ich gedacht, die müssen jetzt natürlich ihren Tolstoi darbringen, ihren Ost-Tolstoi, und wir haben unseren West-Tolstoi. Und ein bisschen war es auch so, aber dieser Ost-Tolstoi war nicht eine Erfindung der Ost-Leute, sondern den gab es eben auch. Der Tolstoi, der mit seinen Bauern auskommen wollte, der nicht den Feudalen spielen wollte und so weiter, und den unseren, den West-Tolstoi, muss ich gar nicht sagen, den gab es natürlich auch.

Und wir haben – beide Partien haben ihren Tolstoi heruntergebetet und da musste man sich nicht und konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Tolstoi einigen. Und das zeigt schon, wie mies diese deutsch-deutsche Situation damals war, denn nachträglich gesehen wäre doch nichts einfacher gewesen als das einer von denen oder von uns gesagt hätte, es gibt eben beide Tolstois. Ihr müsst nicht euren Tolstoi durchsetzen gegen unseren oder wir unseren gegen den euren. Der Tolstoi ist eben reich genug, dass er den Widerspruch, den wir heute in zwei deutschen Staaten repräsentiert sehen, dass er den in sich hatte. So etwas. Aber so ein Satz war damals nicht denkbar.

Kassel: Der Satz war nicht denkbar, sagen Sie. Sie schreiben auch in Ihren Erinnerungen im Tagebuch von damals, dass Sie auch zwischendurch bei ihren Eindrücken ein bisschen Angst davor hatten vielleicht – Sie nennen das ja immer so –, vielleicht verführt zu werden. Das heißt, Sie haben jetzt schon von der Angst gesprochen, zu sehr einfach parteiisch zu sein, vereinnahmt zu werden von Leuten, die sagen, da soll die Überlegenheit des westlichen Standpunkts gezeigt werden. Aber hatten Sie auf der anderen Seite auch Angst, dass vielleicht – ja wie Sie es selber sagen – Sie verführt werden von der Gegenseite, von diesen wunderbaren Formulierungen auch der Funktionäre?

Walser: Jetzt sprechen Sie schon fast, wie man im Kalten Krieg gesprochen hätte. Verführt werden, nicht wahr?

Kassel: … wir wollen uns ja in die Zeit ein bisschen hineinversetzen, es gibt diese beiden Staaten ja nicht mehr.

Walser: Ja, klar. Aber ich meine, etwas von dort gelten zu lassen, war schon gefährlich. Das heißt also, man war polarisiert durch die gesamtpolitische Situation und man hat nichts anderes gemacht bei einem solchen Treffen, solange es öffentlich war, wie diese Polarisierung möglichst intellektuell glaubwürdig zu vertreten. Das ist ganz klar. Aber ich muss ja sagen, für mich war es unglaublich wichtig, nachträglich, dass ich dort war, verstehen Sie? Auch wenn man denkt, man sei als Intellektueller halbwegs imstande, die vom jeweiligen Zeitgeist beförderte oder gar verlangte Parteilichkeit, man sei als Intellektueller imstande, darüberzustehen, das kann man sich einbilden.

Ich meine, es klingt natürlich heute komisch, wenn man sagt, damals vielleicht nur ich, aber vielleicht andere auch, dass man schon gestaunt hat, was der Hermlin für eine tolle Krawatte hatte und so weiter. Da war ich nachträglich sehr froh, dass ich den schon sehr alten und sehr beeindruckenden Arnold Zweig wirklich erlebt habe, obwohl er kein Jota uns entgegengekommen ist. Das war nicht möglich wegen … ich glaube, Hans Mayer war doch auch dabei. Keiner hat nur ein Schrittchen tun dürfen auf uns zu. Und ich glaube nicht, dass wir unsererseits irgendwelche Umarmungsgelüste oder -bewegungen provoziert haben könnten.

Kassel: Gerade der Hans Mayer, den Sie erwähnen, und auch einige andere Vertreter der Ost-Schriftsteller, die anwesend waren, die sind interessanterweise, das konnte man damals natürlich nicht wissen, inzwischen kann man das nachlesen in den Archiven, von der Abteilung Kultur des Zentralkomitees der SED gerügt worden, sie hätten ihr Land – die DDR – nicht ausreichend verteidigt, sie hätten nicht genug Partei genommen. Das können wir jetzt heute als historische Randinformation werten. Was ich aber interessant fand, in dieser gleichen Einschätzung der Abteilung Kultur des Zentralkomitees der SED zu diesem Hamburger Streitgespräch heißt es über Herrn Enzensberger und über Herrn Walser – Sie also auch –, in persönlichen Kontakt solle man treten mit denen von seiten der DDR, um so humanistische und oppositionelle Schriftsteller der BRD für Gespräche zu gewinnen. Hat es so eine Kontaktaufnahme eigentlich irgendwann gegeben?

Walser: Ja, ein einziges Mal, in den 60er-Jahren vielleicht war das. Da kam Hermann Kant zu mir nach Friedrichshafen, und ich wusste nicht warum, also einfach ein Besuch. Und ich hatte keinen Grund, diesen Besuch abzulehnen, ich habe mich gefreut, dass er kam, und man hat miteinander geredet. Interessant fand ich damals, so war eben die zeitgenössische Lage, als Hermann Kant wieder weg war, hat bei mir die Polizei von Friedrichshafen angerufen und hat gesagt: Bei Ihnen war doch der Schriftsteller Hermann Kant, was wollte der von Ihnen? Das müssen Sie sich mal vorstellen. So mies war die Lage, die brave Friedrichshafener Polizei hat also mitgekriegt, dass der Kant, was weiß ich, von Leipzig nach Friedrichshafen kommt und mit mir einen Tag lang redet. Und es war nichts als ein freundliches Reden von zwei Autoren, und ich weiß nicht, was er dann da drüben melden musste oder gemeldet hat. Auf jeden Fall, das war der einzige Versuch. Denn der Kant war ja eine Art offizielle Person auch, der war Schriftstellerverbands-Vorsitzender.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Martin Walser über das sogenannte Hamburger Streitgespräch zwischen Schriftstellern aus Ost- und aus Westdeutschland 1961, ein Streitgespräch, Herr Walser, das stattgefunden hat am 7. und 8. April 61. Ungefähr vier Monate danach wurde dann die Mauer gebaut. Was war das für Sie, vier Monate nach so einer Begegnung, nach – Sie haben es beschrieben – dem Gefühl, man kann ja irgendwie doch mit denen reden. Es sind ja Menschen, und es sind interessante Menschen, was war das dann für ein Gefühl?

Walser: Ich hatte damals das Gefühl, ich habe es auch einmal formuliert: An dieser Mauer haben Ost und West gemeinsam gebaut, natürlich mit weit unterschiedlichen Aktivitäten und Einsätzen, aber der Westen hat an dieser Mauer mitgebaut. Wir waren – das hat man ja gesehen – alles Offizielle, alles Politische war Sackgasse, war Polemik, war Kalter Krieg. Da ist also die Mauer, die ist dann der genaueste Ausdruck dieses Kalten Krieges. Es war eine grauenhafte Atmosphäre.

Kassel: Martin Walser über die Zeiten, die Gott sei Dank vor über 20 Jahren zu Ende gegangen sind. Wer sich noch einmal erinnern möchte an – oder vielleicht wirklich das erste Mal etwas wissen möchte über dieses Treffen 1961 in Hamburg,es gibt einen großen Band zu diesem 50-jährigen Jubiläum, "Ja-Sager oder Nein-Sager: das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren Ost und West" heißt er, herausgegeben von Jens Thiel, im Aurora Verlag erschienen. Aber man sollte natürlich nicht fremde Bücher allein erwähnen, Herr Walser, der neue Roman von Ihnen, "Muttersohn", kommt auch im Sommer heraus. Darüber reden wir an dieser Stelle nicht, aber erwähnen wollte ich es, und ich danke Ihnen sehr, dass Sie heute Zeit für uns hatten!

Walser: Auf Wiedersehen!
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