Der Westen als Schreibblockade

21.08.2013
Seit der Arbeiter C. aus der DDR in den Westen übergesiedelt ist, wo er als Schriftsteller anerkannt wird, hat er noch keine brauchbare Zeile aufs Papier gebracht. Er kann sich nicht entscheiden, ob er zurückkehren soll oder nicht. Wolfgang Hilbigs Wenderoman "Das Provisorium" ist nun in der Werkausgabe erschienen.
Im Zentrum von Wolfgang Hilbigs (1941-2007) Roman "Das Provisorium", der jetzt in der Hilbig-Werkausgabe erschienen ist, steht der Schriftsteller C., der als Alter Ego des Autors gelten kann. Wie Hilbig ist C. Mitte der 80er-Jahre im Besitz eines Visums gewesen, das ihm die mehrmalige Ein- und Ausreise aus und in die DDR erlaubte. In der DDR konnte der Arbeiter C., der schreiben wollte, jedoch nicht publizieren.

Aber als er in den Westen übergesiedelt und als Schriftsteller anerkannt wird, durchlebt er eine Schreibkrise. Die Umstände scheinen günstig, er lebt von einem Stipendium, aber seitdem hat er keine brauchbare Zeile aufs Papier gebracht. Der Mann, der seine Texte im Osten unter widrigsten Umständen schreiben musste, erlebt den Westen als Schreibblockade. Er flieht in den Alkohol, doch es ist eine Flucht, die seine Krise nur noch verschärft. Der Getriebene wird von der Frage beherrscht, an welchem Ort es ihm möglich ist zu schreiben.

C. lebt ein provisorisches Leben. Der Bahnhof wird im Roman zu dem Ort, der C.s Lebenssituation symbolisch spiegelt. Sie ist mit der zu vergleichen, in der sich Buridans Esel befindet, der sich zwischen zwei Heuhaufen nicht zu entscheiden weiß. Im Roman erweist sich der Tag, an dem C. sein Visum verlängern müsste, als ein zentraler Drehpunkt des Handlungsgeschehens. Er bräuchte den Antrag auf Verlängerung des Visums nicht zu stellen, wenn er im Westen bleiben wollte.

Aber sein Dilemma ist ja, dass er nicht weiß, wohin er gehört. Er kann sich auch nicht zwischen zwei Frauen entscheiden. Bleibt er bei seiner Freundin in Nürnberg, oder soll er zu seiner in Leipzig wohnenden Lebenspartnerin zurückkehren?

Auch die zentralen Figuren in Hilbigs Romanen "Eine Übertragung" (1989) und "'Ich'" (1993) waren Schriftsteller. In den beiden, nur im Westen erschienenen Prosaarbeiten, die in der DDR spielen, stehen Protagonisten im Zentrum – beide werden C. genannt –, die in der DDR als Autoren offiziell keine Anerkennung finden.

Anders als die zuvor erschienenen Romanen spielt Hilbigs "Provisorium" - erstmals wurde der Roman 2000 veröffentlicht - in der Bundesrepublik. In diesem Roman ist C. ein gefeierter Autor. Vorbei sind die Zeiten, als man ihm im Osten mit dem Vorurteil begegnete, dass nie ein Schriftsteller aus ihm werden würde. Im Westen wird er mit den Gesetzen des Literaturmarktes konfrontiert. Der Markt wartet auf Bücher, die Zerstreuung garantieren. Solche Bücher aber hätte C. im Osten nicht nur schreiben, sondern auch publizieren können. Als Mahnung stehen in seinem provisorisch eingeräumten Zimmer in Nürnberg zwei Kartons mit Büchern über den Holocaust und den Gulag.

Hilbigs C. ist ein Nachfahre der in Becketts Drama "Warten auf Godot" im Zentrum stehenden Figuren. "Ich habe mich lange dagegen gewehrt", sagt Wladimir in dem 1953 uraufgeführten Stück, "und ich nahm den Kampf wieder auf." Auch Hilbigs C. hat sich lange gewehrt und er will sich nicht geschlagen geben. Doch er scheint den Kampf, der in eine neue, entscheidende Runde geht, bereits verloren zu haben, bevor sie eingeläutet wird. Hilbig ist mit diesem Wenderoman etwas Großartiges gelungen. Die politische Wende von 1989 wird im Roman mit ihren Folgen, die den Einzelnen aus seiner Lebensbahn werfen, bereits vor die eigentliche geschichtliche Zäsur verlegt.

Besprochen von Michael Opitz

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. Werke Band VI
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel mit einem Nachwort von Julia Franck
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
334 Seiten, 21,99 Euro

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