Der weite Weg nach Westen

Georgiens Geschichte am Rande Europas

Das Kloster "Novy Afon Simon Canaanite" in Georgien.
Georgien - wunderschön! Wenn doch nur die Politik nicht wäre. © ITAR-TASS / Valery Matytsin / dpa
Von Martin Gerner · 05.09.2018
Georgien, das sei Gottes bestes Stück, sagen die Georgier selbst. Betörend schön und eigentlich eine wundervolle Heimat. Wäre da nicht die Politik. Denn schon immer lag das Land zwischen Großmächten, wurde zum Spielball seiner Nachbarländer.
"Wie denken die Leute hier in Georgien? Es gibt die Leute, die sehr stolz auf ihn sind. Das ist leider so. Und es gibt viele, die nicht so denken. Im Gegenteil. Viele sagen, naja, er ist zwar Georgier. Aber er hat nichts für Georgien getan. Viele sagen, dass er schuld dran war, was hier mit den autonomen Republiken in Georgien passiert."
Ich halte in Gori an. Meine georgischen Begleiter hätten mir die Stadt nicht gezeigt. Ich muss sie freundlich dazu drängen. In Gori, 60 Kilometer westlich von Tiflis, ist Iosseb Dschughaschwili geboren, besser bekannt als Josef Stalin. Jetzt stehen wir in der Halle zum großen Stalin-Museum. Keiner will mit mir reden, obwohl Zehntausende Touristen das Museum jedes Jahr besuchen. Nur die junge Germanistik-Absolventin, auch wenn gerade keine Touristen in Sicht sind.
"Was ist mit den Menschen in Gori, was hat Stalin mit denen gemacht? Die ältere Generation aus der Sowjetzeit denkt, dass Stalin ein Georgier war, ein richtiger Politiker und so. Aber viele sagen nein."
"Hier sind keine Texttafeln, die etwas erklären. Ist das absichtlich? Keine Texttafeln?" – "Nein, ich denke nicht. Nein."
"Mit Chruschtschows verordneter Entstalinisierung ab 1956 wurde auch Georgien von öffentlichen Stalin-Denkmälern gesäubert. In Gori allerdings wurde erst 2010, nachts und im Verborgenen, das Monument vom Sockel geholt, auf Anordnung der Saakaschwili-Regierung."

"Und wo ist das Denkmal jetzt?" – "Innerhalb der Stadt. Ich weiß nicht, wie das heißt. Dort sind alle Gebäude. Und da liegt die Statue." – "Und die Leute fühlen sich jetzt wohler ohne Statue?" – "Je nachdem. Viele sagen, es muss wieder aufgestellt werden. Viele sagen nein." – "Und was denken Sie?" – "Ich denke nein. Das brauchen wir nicht."
Blick in einen Gang mit Gemälden von Josef Stalin im Stalin-Museum in Gori (Georgien) - dem Geburtsort von Josef Stalin. 
Kritisches über Josef Stalin erfährt man hier kaum: Stalin-Museum in Gori.© robertharding
Das Stalin-Museum ist voll von Devotionalien, Jubel-Gemälden, Marmorbüsten, einem Dutzend großer Säle mit Stalin-Huldigungen von Dichtern und Autoren. Nur zwei kleine Räume im Untergeschoss erwähnen auch Opfer der Stalin-Zeit, ohne Erklärungen. Die Touristenführerin, man spürt das, würde das ändern. Wenn sie könnte.
"Ich sage ja immer: Wie schön, dass keiner hier im Museum Deutsch spricht und mich versteht, was ich ihnen sage. Es gibt keine andere Möglichkeit, als Germanistin hier etwas zu tun. Gori ist eine kleine Stadt und die deutschsprachigen Touristen kommen hier im Sommer bis Ende Oktober, im Winter nicht. Dann bleibe ich im Winter immer ohne Arbeit. Das ist nicht schön, ehrlich."
Gori hat etwas von schlafenden Geistern, die keiner wecken will. Eine UN-Mission ist am Stadtrand stationiert, die den Konflikt mit Süd-Ossetien überwacht. Zu Fuß durch Gori gehen meine Begleiter hinter mir. Als wir es verlassen, scheinen sie erleichtert.

"Ich war ein verwöhntes sowjetisches Kind"

"Ich bin in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen. Ich war ein verwöhntes sowjetisches Kind. Meine Kindheit war sehr glücklich. 20 Jahre war ich absolut glücklich. Meine Eltern waren keine Parteigenossen. Diesen Zwang und irgendwelche Dummheiten hatten wir zuhause nicht. Sie lebten leise, wie man sagt."
Anna Kordsaia-Samadaschwili. Geboren 1968, aufgewachsen in Swanetien, Nordkaukasus, an der Grenze zu Russland, wo die höchsten Dörfer Georgiens liegen. Später in Tiflis zu Hause. Übersetzerin von Elfriede Jelinek und Rüdiger Safranski. Dozentin für kreatives Schreiben.
Nun stopfte derjenige, der unten geblieben war, das Dynamit in das Loch, steckte die Hülse mit der Zündschnur hinein und ließ sich hochziehen. Die Zündschnur war relativ lang. Der Mann lehnte sich über den Felsrand und zündete sie an. Die Leute traten zurück. Dann war ein Knall zu hören.

Eine Kurzgeschichte von Anna Kordsaia-Samadaschwili erzählt, wie ihr Großvater in den 30er-Jahren, auf dem Höhepunkt des Stalin-Terrors, die ersten Straßen im swanetischen Gebirge baut. Der Opa: einer von wenigen Zehntausend noch lebenden Swanen.
Blick über den Guli Pass in Swanetien (Georgien).
 
Schneebedeckte Gipfel und tiefe Schluchten prägen die Region Swanetien.© Arco Images
"Die Geschichte, wie die Straße nach Swanetien gebaut wurde: Man redet darüber nicht. Es ist keine positive Geschichte. Zu viele Menschen sind dabei ums Leben gekommen."

Das Dynamit hatte gute Arbeit geleistet. Die Älteren zertrümmerten den Felsen mit der Spitzhacke. Und wir, die Kinder, schufen mit Eisenschaufeln und Hacken den nötigen Platz für Erde und Felsbrocken. Die ersten zwei Tage hatte ich zu kämpfen. Alle mussten arbeiten, die Straße bauen. In jenem Jahr hatte ich nach zwei Monaten so viel Geld zusammen, dass ich mir neue Armeehosen kaufen konnte, und ich bekam auch zwei russische Decken.

Zwei unzerstörbare Schuhen aus Autoreifen

"Es war freiwillig. Man hat sie nicht wie Sklaven dort hingeschickt. Bloß herrschte solche Armut, dass die Menschen sich darauf freuten, dass sie irgendwelche Schuhe kriegten, die eigentlich keine Schuhe waren. Das waren Reifen von Autos. Aber sie waren bequemer als die schwanischen Schuhe. Ich erinnere mich an die Gummischuhe. Sie lagen bei uns zu Hause. Sie waren ewig."
Offensichtlich waren es Abschnitte von abgenutzten Autoreifen. Beim Laufen lagen Ferse und Zehen nicht auf, die Schuhe waren vorn und hinten hochgebogen. Das machte müde Beine, aber ich gewöhnte mich bald daran. Die Schuhe erwiesen sich als unverwüstlich. Bis heute liegen sie in einem Karton.

Europaflaggen in Tiflis

Der Friedensplatz in Tiflis ist das Gegenteil von Swanetien und Gori. Laut und schrill wie seine Straßenmusiker. An vielen Gebäuden hängen Europa-Fahnen. Man könnte meinen, Georgien sei bereits in der EU. Ein Wunschtraum – tatsächlich fühlen sich viele Menschen unverändert im Krieg mit Russland.
"Das sind typische Innenhöfe von Tiflis. Treppenhäuser. Das ist eine ganz tolle Straße hier. Das Viertel heißt Sololaki."
Abo Iaschaghaschwili. Führer in Tiflis und für Bergtouren. Buchautor. Anfang 40. Er führt mich entlang der Fassaden und historischen Hinterhöfe der Altstadt.
"Der Begriff Soloaki stammt vom arabischen Sulo lakh. Das soll eine Grube zur Bewässerung heißen. Das ist das prächtigste, das reichste Viertel von Tiflis gewesen. Man spürt das auch an der Architektur. Georgien liegt an dieser Kreuzung von Kulturen. Viele Länder haben versucht, hier Fuß zu fassen. Große Imperien. Bis heute geht das leider weiter. Wir haben über die Perser und Georgier gesprochen. Der alte Name von Persien ist Parthien gewesen. Die haben die Kriege mit den Römern geführt. Die Römer haben in West-Georgien Fuß gefasst. Die Perser in Ost-Georgien. Tiflis haben die Araber im 7. Jahrhundert erobert. Über vier Jahrhunderte regierten die arabischen Emire in Georgien, in Tiflis meine ich."

Die Lage zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, in einem klimatisch freundlichen und fruchtbaren Durchzugsgebiet zwischen Asien und Europa war für Georgien politisch eher Fluch als Segen.
Blick auf die Brücke des Friedens über den Mtkwari-Fluss in Georgiens Hauptstadt Tiflis.
Modern präsentiert sich Tiflis: Brücke des Friedens über den Mtkwari-Fluss.© imageBroker / dpa
Die Perser verschleppten wiederholt Zehntausende Georgier. Als Unterworfene bereicherten sie den Harem des persischen Königs. Georgische Söldner bildeten die Kerntruppen des persischen Heeres. 1795 plünderten die Perser Tiflis, schändeten Kirchen, brannten Häuser nieder. Geblieben ist der sprachlich Einfluss: Das Georgische enthält heute viele Lehnsworte aus dem Persischen.
"Man sieht das sowohl in der Architektur, in der Dichtung, in der Tracht. Sogar in der Küche findet man den Einfluss: Die Könige haben nach persischer Art Gedichte geschrieben. Die persische Sprache ist sehr wohlklingend. Bis heute findet man dies in der georgischen modernen Sprache. Georgien ist auch ein christliches Land. Schon die Apostel haben hier das Christentum gepredigt. Und das Christentum ist bis heute ein Merkmal europäischer Länder gewesen."

Das winzige georgische Schiff im geopolitischen Weltmeer

Dem Leser möchte ich erläutern, in welch geopolitischem Weltmeer das winzige georgische Schiff schwimmen musste und bis heute schwimmen muss.
Rewa Gatscheschiladse ist georgischer Historiker. Autor einer kritischen Enzyklopädie über Georgien im weltpolitischen Kontext, die auch in Deutsch vorliegt. Über die geografische Lage schreibt er:
Da Georgien auf der Naht zwischen Europa und Asien liegt, können sich die internationalen Organisationen sich bis heute nicht einigen, zu welchem Teil des Kontinents das Land nun gehört. Geografisch, entlang der Wasserlinie des Kaukasus, läge es in Asien. Kultur-geografisch, auf der christlichen Basis, ist es unser Argument für ein Europäer-Sein. In jedem Fall ist Georgien ein Transitland.
Abo, der Stadtführer, hat Westeuropa als Student bereist und vorübergehend in Berlin gewohnt. Eigentlich heißt er Dimitri. Der Künstlername ist dem Arabischen entlehnt.
"Ich bin ein Kind der Sowjetunion. Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen und während dieser Revolution groß geworden. Ich versuche viel über die Vielfalt der Kulturen zu schreiben. Über das 19. Jahrhundert in Tiflis, diese verschiedenen Kulturen, die nebeneinander existierten. "
Die Urbanisierung in Tiflis beschleunigte sich im letzten Dritten des 19. Jahrhunderts. Um 1900 war jeder dritte Bürger in Tiflis Russe. Die Armenier machten ein weiteres Drittel aus. Erst dann folgten Georgier – und Perser, Deutsche, Polen, Franzosen, Tschechen. Mischehen mit Europäern waren an der Tagesordnung.
1913 gibt es eine Hochschule und rund 150 Lehranstalten. In Tbilisi wurden die meisten Zeitungen und Zeitschriften im Kaukasus herausgegeben: 19 in russischer, zehn in armenischer, sechs in georgischer, eine in deutscher Sprache. Die Stadt besaß fünf Theater, acht Kinohäuser, zwanzig Apotheken, 37 Hotels, zehn Bibliotheken, 46 orthodoxe, 22 armenisch-gregorianische Kirchen, zwei Synagogen und zwei Moscheen, eine sunnitische und eine schiitische. 1904 fuhr die erste Straßenbahn.

Treffen "der Völker" in einem georgischen Hinterhof

Eine Predigt in der Ashkenazi-Synagoge in Tiflis, einem der beiden jüdischen Gotteshäuser, die weiterhin lebendig sind. Die blaue Moschee in Sololaki dagegen ist ein Trugbild. Hinter der Fassade versteckt sich ein Thermalbad. Öffentliche Bäder haben Tradition im Viertel. Die Moschee aus Backstein liegt oberhalb am Berg in Sololaki. Innen Teppiche. Sunniten beten im rechten Schiff, Schiiten im linken.
"Ich bin in Alt-Tiflis geboren und dort aufgewachsen. In meinem Hof waren wir nur zwei georgische Familien. Da waren Jesiden in unserem Hof. Unsere Jesiden hatten einen Spruch: Gott segne unsere Kinder und alle anderen 14 Völker der Welt. Und jedes Mal, von Jahr zu Jahr, gab es ein Gebrüll, wer diese 14 Völker sind. In unserem Hof gab es Georgier, Juden, Ukrainer, Armenier, Kurden und einen Herrn Krupel, einen Deutschen."
Als die Macht der Perser im 18. Jahrhundert erodierte, wurde Russland zur neuen Regionalmacht. Ab 1801 herrschten die Zaren über Tiflis und das Gros des heutigen Georgien. Georgiens Schwarzmeerküste wurde zur Riviera für die Oberschicht, die Berge zur georgischen Schweiz. Für die Mehrheit der Georgier war diese Inbesitznahme dieser Landschaften in Trauma.
Übrigens kam Russland nicht, um das christliche Volk, die Georgier und Armenier, zu befreien, was von russischen und sowjetischen Geschichtsschreibern immer behauptet wird. Das Endziel war, sich endgültig an warmen Meeren niederzulassen. Dieses Ziel setzte sich auch die stalinistische Sowjetunion."
So der Historiker Rewa Gatscheschiladse. Für einen Moment schien sich Georgien 1918 von der russischen Umklammerung befreien zu können: Mit der Oktoberrevolution war es drei Jahre lang unabhängig. Das Deutsche Reich erkannte Georgien als erstes Land an. Doch ausgerechnet ein Georgier, Stalin, beendete den Traum. Georgien wurde Teil des Sowjetreichs. Und erlitt massiven Terror.
Stalin hatte kein besonderes Interesse an seiner historischen Heimat. Er ließ zu, die bekanntesten Vertreter der georgischen Nation massenweise auszurotten. Die Repressionen von 1937-38 trafen die Georgier genauso hart wie andere, die Partei- und Intellektuellen-Eliten sogar härter. Stalin kannte viele von ihnen persönlich, versuchte aber nicht, sie vor Erschießungen zu bewahren. Im Gegenteil: er regte zu diesen Gräueltaten an. Er erinnerte sich an Georgien erst, als er alt wurde.

"Dann gibt es kein Georgien mehr"

Nach dem Tod Stalins prägte Argwohn das Verhältnis zu Moskau. Die Führung im Kreml bekam dies 1978 zu spüren. Mit einer Verfassungsänderung sollte das Georgische als nationale Sprache weichen. Eine Frage der Identität, die Proteste entfachte.
"Es gab zwei staatliche Sprachen in der Republik Georgien: Georgisch und Russisch. Georgisch war dominant. Ich war in der georgischen Schule und niemand hat uns unterdrückt. Die Sprache hat keiner angerührt. Aber plötzlich wollten sie das ändern. Und bevor das Grundgesetz geändert wurde, gab es Demos. Und man roch, dass es schlecht enden würde. Ich war klein. Aus der Schule hat man meinen Vater angerufen, er sollte mich abholen. Ich hatte einen Schock: Wieso kann ich nicht alleine nach Hause? Aber man erlaubte es den Kindern nicht. Alle hatten Angst, dass etwas passiert. Da kamen die Panzer."
Die rote Armee fährt Truppen auf. Das Blutbad aber bleibt aus. Demonstrierende Studenten und Schüler mit Eltern erzwingen mit ihrem Protest ein kleines Wunder vor dem ZK-Gebäude. Die Sowjetmacht lenkt ein. Georgien darf seine Sprache behalten. Alle anderen Sowjetrepubliken dagegen bekommen das Russische verordnet. Das Misstrauen aber bleibt.
"Wenn Georgien die Sprache verliert, gibt es kein Georgien mehr. Die Mutter wählt man nicht, man liebt die Mutter. Und wenn man sie mir wegnimmt, bin ich zwar ein Mensch, aber dann bin ich ein Krüppel. Es geht nicht."
"Der Sozialismus in der Sowjetunion war natürlich schlecht."
Naira Gelaschwili. Leiterin des Kaukasischen Hauses in Tiflis. Mitbegründerin der Grünen-Bewegung in Georgien. Politikerin, Autorin, Übersetzerin.
"Man hat mir verboten, in die DDR zu reisen. Ich wollte dort mein Studium fortsetzen. Man hat mir das nicht erlaubt. Der KGB. Ich war sehr anti-sowjetisch. Als ich die Uni beendet habe, wollte ich mein Studium wenigstens in Jena fortsetzen. Wir hatten damals einen Studentenaustausch. Bis heute. Alle durften. Nur ich habe nie in Deutschland studiert. Das ist für mich ein großer Schmerz geblieben."
Sowjetisierung hieß Industrialisierung. In Rustawi wurde 1944 eine ganze Stadt neu aus dem Boden gestampft. Der Alltag der Dörfer dagegen blieb ländlich geprägt.
"In meinem Dorf, in Kachetien, ein Weingebiet, hat jede Familie ihre kleine Bäckerei. Und wir backen solche sehr langen – solche hab ich nie gesehen anderswo – dünnen Brote. Die haben Spitzen. In meiner Kindheit duftete das nach echtem Korn. Und auch meine Großeltern hatten einen eigenen Acker, absolut reine Produkte, ohne Gifte. Wie das Brot damals duftete, das ist für immer verschwunden."

Wo Zwerge und Riesen leben

In Swanetien, wo der Großvater von Ana Kordsaias als Kind die erste Straße baute, überdauerte das erzählte Wort - bis heute.
"Für mich ist Swanetien mit so vielen Geistern und irgendwelchen Zwergen und Riesen bevölkert. Wenn ich das erzähle, klingt das wie ein Märchen. Aber für mich ist das kein Märchen. Das ist meine Welt. Und ich weiß, dass es dort den Riesen gibt. Hier treffe ich ihn nicht. Dort glaube ich an die guten Zwerge, die irgendwie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchten. Und die deshalb ständig kleine Steine nach mir werfen. Ich muss vorsichtig sein. Denn sie sind hässlich. Wenn ich sie anschaue und brülle, sind sie beleidigt. Sie möchten mit mir kommunizieren. Man darf sie nicht beleidigen.
Man kann diese bemerkenswerte Symbiose zwischen wirklicher und fantastischer Welt als typisch kaukasisch bezeichnen.
"Hier erzählt man viel. Das historische Gedächtnis ist sehr lang. Und groß. Und geht in die Tiefe. Wie viele Generationen deiner Ur-Eltern kennst du? Wir haben keinen Stammbaum. Aber ich weiß, wie der Großvater von meinem Großvater heißt und welche Frauen er mochte. Und warum er seinen Zahn verloren hat. Ich kenne sechs bis sieben Stufen nach hinten, mit all den Frauen, Kindern, den Schuhgrößen und so weiter. Aber es ist nicht geschrieben."

Korruption und die "Diebe im Gesetz"

Nach Stalins Tod atmeten die Menschen auf. Unter Chruschtschow kamen viele frei, Todesurteile wurden revidiert. Aber die Reformen stockten. Mit Breschnew verfestigen sich ab Mitte der 60er-Jahre Stillstand, Korruption und persönliche Vorteilnahme durch die Nomenklatura.

Breschnew zum Beispiel hatte über 50 Wagen. Auslandsreisen und Autos. Der Appetit der hohen Parteifunktionäre wuchs immer weiter. Ging logischerweise in die organisierte Kriminalität über: wie zum Beispiel Gold ins Ausland zu schaffen, ausländische Währung ins Land schmuggeln, Drogenhandel. Diesen Geschäften schloss sich die Welt der Diebe freudig an. "Diebe im Gesetz" wurde schon fast zu einem Bestandteil des sowjetischen Establishments. Die jungen Erwachsenen von damals sind heute im fortgeschrittenen Alter, ihre Mentalität aber ist unverändert. So war es auch in Georgien.
So ist wohl zu erklären, warum nach dem Zerfall der Sowjetunion, als Georgien wieder unabhängig wurde, zwei von drei Männern des neuen Führungstrios eine kriminelle Vergangenheit hatten. Bildhauer der eine, Raubmörder und Stückeschreiber der andere. 1991 begann eine Zeit der georgischen Warlords:
"Nach dem Zerfall der Sowjetunion war hier der Bürgerkrieg. So etwas kannte Georgien praktisch nicht. Und der Krieg war hier auf der Hauptstraße in Tiflis, Rustaweli. Das war ein echter Krieg. Das war nicht so, dass man einfach nur miteinander schimpfte. Das waren Schießereien, das waren Tote, Verletzte. Das war Katastrophe pur. Die Hauptstraße brannte."

Der Militärputsch von 1991 bis 92 richtete ein Chaos an. Es gab paramilitärische Gruppen, Kriegsherren und Atamanen, die formell der Regierung in Tbilisi unterstanden, faktisch aber bewaffneten Kriminellen gleichzusetzen waren. Viele kamen direkt aus dem Gefängnis und waren durch die Amnestie des Militärrats begnadigt. Unter diesen Umständen begann im August 1992 der Krieg im Nord-Osten Georgiens, in Abschasien.
Die politische Führung der Abchasen - nach Sprache, Kultur und Mentalität ein eigener Volksteil im Nordwesten Georgiens - beansprucht nun ebenfalls die Eigenständigkeit. Im August 1992 besetzen georgische Einheiten deshalb die abchasische Hauptstadt Suchumi. Die Abchasen schlagen sie mit russischer Militär-Hilfe wieder zurück. Eduard Schewardnadse, bis zum Fall des Sowjetreichs Außenminister in Moskau, kehrt – gegen Widerstände – in seine Heimat Georgien zurück. Er gerät mitten in den Krieg um Abchasien, der Küstenregion am Schwarzen Meer, kann das Schlimmste aber nicht verhindern.
Präsident Schewardnadse konnte in Georgien keinen neuen Bürgerkrieg gebrauchen. Er war dagegen, dass die Garde einmarschierte, die dort viele Verbrechen beging. Da Tiflis dennoch gezwungen wurde, sich am Krieg zu beteiligen, war es Schewardnadses Pflicht zu siegen. Er wusste auch, dass der Kreml den georgischen Sieg niemals zugelassen hätte."
Die Bilanz des Abchasien-Krieges: 11.000 Tote auf beiden Seiten, zerstörten Häuser, Hunderttausende, die fliehen müssen. Faktisch gehört Abchasien seither zum russischen Machtbereich. Georgien reklamiert es als sein Territorium.

"Der Krieg hat meine besten Freunde mitgenommen"

Die wesentliche Aufgabe der separatistischen Regierung war die Vertreibung aller Georgier, die in Abchasien lebten. 80 Prozent von 250.000 Georgiern mussten fliehen. Es war im Grunde eine ethnische Säuberung.
"Dieser Krieg in Abschasien hat meine besten Freunde mitgenommen. Die Männer, die ich liebte und die ich lieben wollte. Mein Haus, mein wunderbares schönes Haus in Suchumi steht nicht mehr. Es steht, aber ich werde es nie mehr sehen. Und ehrlich zu sagen: Ich habe überhaupt keine Lust, was habe ich dort verloren?"
Russische Friedenstruppen erreichen im August 1994 das Kodor-Tal in Abchasien. Der blutige Kampf zwischen dem nach Autonomie strebenden Abchasien und georgischen Truppen endete am 15.04.1994 mit der Unterzeichnung eines Abkommens, das die Stationierung einer GUS-Friedenstruppe im Grenzgebiet zwischen Abchasien und Georgien vorsieht.
Russische Friedenstruppen erreichen im August 1994 das Kodor-Tal in Abchasien.© ITAR-TASS / dpa
Mit den marodierenden Truppen und Paramilitärs, die keine verlässliche georgische Armee bilden, kollabiert ein ganzes Wirtschaftssystem. Von heute auf morgen gibt es keine Zuteilungen mehr an Wohnraum und Coupons. Gehälter und Geld sind entwertet.
"Die 90er-Jahre in Georgien waren Jahre einer seltsamen Armut. Es ist sehr schwer, sich vorzustellen in einer Stadt mit mehr als einer Million Einwohner, plus 300.000 Flüchtlinge aus Abchasien, dass es in dieser Stadt keinen Strom gibt, überhaupt keinen, kein Gas. Acht Jahre lang. Selbstverständlich sehr wenig Wasser und so halt."
Wenn 1989 eine Familie pro Kopf 41 Kilo Fleisch konsumierte, waren es 1992 lediglich drei Kilo. Viele konnten sich nicht einmal dies leisten. In den Banken gab es keine Rubel mehr. Was die Bevölkerung besaß, verlor schnell an Kaufkraft.
"Die Eltern arbeiteten an der Uni. Mein Vater verdiente an einem Tag Übergangsgeld, vom sowjetischen Geld zum neuen georgischen. Das waren kleine Papierchen. Einmal hatte ich eine Million in der Tasche. Damit konnte ich vielleicht ein Snickers kaufen."
Ganze Städte und Dörfer versanken im Dunkel. Dort, wo Strom noch geliefert wurde, konnte ihn sich die Bevölkerung gar nicht leisten.
"Damals bekam ich einen Job an der chinesischen Botschaft, als Sekretärin. Ich hatte irgendwann einmal Chinesisch studiert. Ich verdiente pro Monat 40 Dollar. Ich war so die Reichste im ganzen Stamm und im ganzen Haus. 40 Dollar! Mein Vater verdiente damals 1,20 Dollar. Meine Mama 98 Cent als Professorin an der staatlichen Tifliser Universität. Ich weiß nicht warum – aber wir überlebten das irgendwie normal. Das Gefühl der Tragik kam nach zehn Jahren etwa."

Der Markt musste für den Import geöffnet werden. Billige Ware aus der Türkei und China lies die Leichtindustrie Georgiens erstarren. Anfang der 90er-Jahre florierten verschiedene Finanzpyramiden. Sie nutzten die Psychologie der naiven Menschen aus, denen sie eine 100-prozentige Dividende versprachen. Auf die Arbeitslosigkeit folgte die Emigration. Zum Hauptziel wurde Russland. Die, die es ins weite Ausland schafften, außerhalb der SU, wurden dort zu Bauarbeitern, Verkäufern, zu Kinderfrauen und Altenpflegern.
"Die 90er-Jahre waren weder Kapitalismus noch Sozialismus noch etwas Menschliches. Die 90er waren etwas, das vielleicht Historiker nach einem halben Jahrhundert irgendwie analysieren werden, was es hat sein können. Es dauert ewig."
Ein Frau fegt eine Strasse in Tiflis.
Warten und hoffen auf dem wirtschaftlichen Aufschwung... Straßenszene in Tiflis.© imago / stock&people

"Das war ein Wahnsinn"

2008 eskaliert der Konflikt um Süd-Ossetien. Die Osseten, Nachkommen eines iranischen Nomadenvolks, sind überwiegend russisch-orthodoxen Glaubens. 1990 erklärt das georgische Parlament die südossetischen Autonomierechte für nicht länger gültig. Es folgen eineinhalb Jahre erbitterter Krieg. Als russisches Militär Gori angreift und unweit von Tiflis steht, wird Georgien für einen Moment zum Schauplatz der Weltpolitik. Der junge Micheil Saakaschwili, mit 36 Jahren jüngster Präsident weltweit, tappt in eine Falle, die ihm Russlands Präsident Putin stellt.
"Viele westliche Diplomaten und Politiker besuchen das kaukasische Haus und sie sprechen mit mir. Bitte! Keine Konfrontation mit Russland. Das ist unser Rat. Niemand kann euch helfen. Und da hab ich immer gefragt: Sagen sie das unserer Regierung?"
Saakaschwilli startet die Kampfhandlungen. Und hofft auf militärische Hilfe vom Westen. Ein verhängnisvoller Fehler. Auf südossetischer Seite greifen russische Freiwillige und reguläre Armee-Einheiten ein. Es kommt erneut zu ethnischen Säuberungen. In der Hauptstadt Tiflis suchen die Menschen Zuflucht in U-Bahnschächten.
"Unsere Politiker sind nicht vorsichtig genug. 2008, das war so ein Wahnsinn von Saakaschwili. Wie konnte er nur den Krieg anfangen? Er wurde provoziert von der russischen Seite. Ja. Aber wie darfst du so etwas nur tun? Man kennt doch die ganze Geschichte: unsere Beziehungen mit Russland und die Geschichte des ganzen Konflikts. Wie sie sich benehmen können."
Ein Fünftel seines Territoriums hat Georgien seit 1989 verloren – wegen fehlender Staatskunst an der Spitze, meint nicht nur Naira Gelaschwili, deren politischer Sachverstand in Georgien zählt. Im Westen wird der Machtwechsel von Schewardnadse zum jungen, Saakaschwili gern als "Rosenrevolution" verklärt.
"Nach meiner Einschätzung hat diese Revolution nicht viel Positives für Georgien gebracht. Selbst der Führer dieser Revolution hat das Volk nicht ganz richtig verstanden, sein eigenes Volk und seine Stimmung. Er hat sehr große Unterstützung von der Gesellschaft gehabt in den ersten zwei bis drei Jahren, aber dann nicht mehr. Er hat Größenwahn gehabt. Und er hat das Vertrauen vom Volk nicht genutzt. Allmählich hat er sich in einen Diktator verwandelt. Er wollte alles kontrollieren. Das Wort Demokratie war nur eine oberflächliches Wort."

"Die EU ist ein großer Traum"

Saakaschwili übergibt immerhin die Macht friedlich. Damit scheint Georgien im Westen angekommen. US-Präsident George Bush, zu Besuch 2005, nennt das Land einen "Leuchtturm der Demokratie". Es fließen Geld und Hilfsprogramme, bis heute. Wenige Georgier profitieren wirklich davon. Der Beitritt zur Nato bleibt ein Wunsch. Heute ist Georgien beides: Frontstaat des Westens im neuen Kalten Krieg mit Russland und Teil der russischen Einflusssphäre.
"Die EU ist ein großer Traum wegen der Sicherheit. Wir haben eine sehr schwierige Nachbarschaft. Und deswegen: wenn man träumt von der EU, weiß man: es gibt eine Brücke zwischen zwei Ländern. Und über diese Brücke fährst du so, so dass kein Mensch weiß wo Dänemark endet und wo Schweden beginnt. Das wollen wir auch haben. Natürlich."
Kleiner Kaukasus in Georgien
Wunderschöne Landschaft: der "Kleinen Kaukasus" in Georgien.© picture alliance/dpa/Foto: W. Korall
Gerade hat Georgien zehn neue Fluglinien eröffnet. Von Deutschland nach Tiflis - ohne Zwischenstopp in Istanbul. In der Altstadt von Tiflis bröckeln derweil viele historische Gebäude.
"Jetzt hat man angefangen mit der Renovierung der Altstadt. Das Grundproblem ist das Grundwasser. Das bleibt in den Kellern der Häuser. Dieses Wasser kommt von den Bergen runter. Tiflis ist zwischen Hügeln gebaut worden. Früher ist das Wasser frei zum Fluss geflossen. Aber im 20. Jahrhundert, zur sowjetischen Zeit, hat man den Fluss eingemauert. Und das Wasser von den Bergen konnte nicht mehr durch die Mauern durchsickern. Und deshalb sieht man viele Häuser in der Altstadt, die krumm stehen und verfallen. Die Stadt braucht viel Geld, um diese Keller trocken zu machen."
Ausländische Investoren haben Hochhäuser wie grobschlächtige Nägel in das Stadtbild getrieben. Sie bilden jetzt neue Allianzen mit alten, neo-sowjetischen Eliten.
"Plötzlich sind steinreiche Menschen entstanden. Die sind die Vertreter der sowjetischen Schattenwirtschaft. Die Leiter der KP, diese Bosse der Komsomole, der Kolchosen. Überall, wo das Geld war. Diese Menschen haben schon damals das Geld gesetzeswidrig gesammelt. Und haben mit ihren Kindern und Enkelkindern das kapitalistische Leben angefangen. Diese Art des Lebens, Klauens, Plünderns, das haben sie weiter gemacht. Ohne Ideale, ohne geistige Werte, ohne Bildung, ohne Bücher. Ohne etwas. Deshalb ist dies wilder Kapitalismus. Sie erkennen überhaupt keine Gesetze an. Es ist kein Rechtsstaat, nur äußerlich. Es ist keine Demokratie. Wie kann Demokratie mit Armut zusammen existieren?"
Angekommen im Westen zerren die Kräfte von gestern an Georgien. Wo etwa Schwule und Lesben heute in Tiflis auftreten, ruft dies georgische Nationalisten und die orthodoxe Kirche auf den Plan. Einig sind sich die Menschen über die Vorzüge der neuen Visa-Freiheit in die EU. Aber immer mehr fragen nach Asyl in Deutschland. Dabei ist Georgien einladend, betörend. Ein Touristen-Paradies. Gottes bestes Stück, wie die Georgier sagen. Wäre da nicht die Politik.
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