Der Völkermord an den Armeniern

Erschossen, ertränkt, erschlagen, an Kreuze genagelt

Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 bei den Massenmorden und Deportationen durch die Türken ums Leben gekommen. Als Folge flüchteten die Armenier aus dem türkischen Teil Armeniens in den russischen Teil sowie in andere Länder.
Massengrab mit den Leichen getöteter Armenier. Rund 1,5 Millionen Armenier sind in den Jahren 1915 und 1916 durch Massenmorde und Deportationen ums Leben gekommen. © picture alliance / dpa / Foto: epa CRDA
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 19.04.2015
Es begann vor 100 Jahren: Im April 1915 veranlasste die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches die Verhaftung, Deportation und Ermordung armenischer Intellektueller in Konstantinopel. Dieses Datum ist seither ein Gedenktag für die mehr als eine Million Opfer. Für die Türkei ist das Gedenken bis heute ein heikler Punkt.
Der Publizist Ralph Giordano hatte in seinem langen Leben - er starb im vergangenen Dezember im Alter von 90 Jahren - zahllose Auszeichnungen und Ehrungen bekommen. Aber an eine erinnert er sich besonders: "Keine konnte sich messen mit dem, was mir am Morgen des 22. April 1986 telefonisch übermittelt wurde, nach der Ausstrahlung meiner Sendung 'Die armenische Frage existiert nicht mehr - Tragödie eines Volkes' durch den WDR am Abend davor. 'Als ich heute Morgen auf die Straße trat, hatte die Welt keine Ähnlichkeit mehr mit der von gestern', sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung..."
Es war die Stimme des armenischen Historikers Mihran Dabag, Leiter des "Instituts für Diaspora- und Genozidforschung" in Bochum. Dabag hatte einen Tag zuvor Giordanos Film gesehen und spontan zum Hörer gegriffen. Giordano hatte als erster deutscher Journalist von Rang dieses Thema aufgegriffen. Sein Film zeichnete den Weg des Genozids anhand der deutschen diplomatischen Akten und Berichte nach. „Ein Film, der die Täter eines grausamen Verbrechens und die wahren Hintergründe ihres Vorgehens offenbarte... So setzt der Herr seine goldenen Handschrift auf die Seiten der Geschichte", sagt Karekin Bekdjian, Erzbischof der Deutschen Diözese der Armenischen Kirche.
Das Echo auf diese Dokumentation war wohl auch deshalb so groß, weil das Geschehen tatsächlich im Bewusstsein der Deutschen nicht vorhanden war. Und weil deutlich wurde, dass über dieses Verbrechen - Höhepunkt einer jahrhundertelangen Leidensgeschichte der christlichen Armenier - keine andere europäische Regierung damals so gut informiert war wie die deutsche.
Mihran Dabag: "Dieser Völkermord in der osmanischen Türkei hat nicht nur insgesamt 1,5 Millionen Tote gefordert; er hat eine gesamte Gemeinschaft zerstört. Der Genozid verursachte einen bis heute nicht zu schließenden Bruch in der armenischen Kultur und Tradition. Es gibt nicht einmal Gräber, an denen man trauern, an denen man gedenken könnte."
Das große Morden begann mit Razzien in Konstantinopel
Jahrhundertelang hatten christliche Armenier in Ostanatolien gelebt, seit dem 14. Jahrhundert unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. Ihre Glaubensgemeinschaft gehört zu den nicht-chalcedonischen, christlich-altorientalischen Kirchen. Das heißt: Nach den Auseinandersetzungen um das Konzil von Chalcedon im Jahr 451 - es ging dort um die Frage der gottmenschlichen Natur Christi - spaltete sie sich von der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche ab.
Die Armenier im Osmanischen Reich gelten als loyale und gut integrierte Untertanen. Doch um die Mitte des 19. Jahrhunderts kippt die Stimmung: Rufe nach Reformen werden laut, die Rivalität des "kranken Mannes am Bosporus" mit den europäischen Großmächten und Russland nimmt zu. Überdies fordert die Regierung immer höhere Steuern von den nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen. 1908 ergreifen die "Jungtürken", eine nationalistische Bewegung, die Macht. Sie wollen aus dem Vielvölkerstaat einen Nationalstaat unter türkischer Führung machen. Für ethnische und religiöse Minderheiten wie die der christlichen Armenier wird in diesem Staat kein Platz mehr sein.
Das große Morden beginnt in den Apriltagen 1915 mit Razzien gegen die armenischen Eliten in Konstantinopel. Treibende Kraft hinter diesen Maßnahmen ist der türkische Innenminister Tala'at Pascha. Der gibt den Befehl zur Deportation von rund zwei Millionen Armeniern in die mesopotamische Wüste. Viele schaffen es bis dorthin gar nicht erst. Sie werden gleich in ihren Dörfern ermordet - erschossen, ertränkt, erschlagen, an Kreuze genagelt.

"Nachdem wir die Nacht in Karajefrem zugebracht hatten, brachen wir mit Sonnenaufgang nach Geverek auf. Auf der Straße bot sich uns ein schauerlicher Anblick: Die Leichen der Ermordeten lagen in großer Zahl auf beiden Seiten des Weges, Männer und Frauen durcheinander, die Körper von der Glut der Sonne schwarz gebrannt." So ein Augenzeuge des Völkermords, der Araber Fa'iz Al-Ghusein, der seine Erlebnisse 1916 in sein Tagebuch notiert: "Je näher wir Geverek kamen, desto mehr Leichen sahen wir; der größte Teil waren Kinderleichen. Als wir in Geverek aus dem Wagen stiegen, sahen wir, wie ein Diener des Chans ein kleines Kind mit goldblondem Haar hinter die Mauer warf. Auf Befragen sagte er, es seien drei kranke Armenierinnen im Haus, die von einem Zug zurückgeblieben seien. Eine hätte dem Kind das Leben gegeben, es aber nicht ernähren können, weil sie krank war; so sei es gestorben. Und der Diener warf es fort, wie eine tote Maus..."
Mihran Dabag: "Überleben nach solchen Erfahrungen kann immer nur ein Davonkommen bleiben. Das Leben danach bleibt gezeichnet davon, dass man bestimmt war, nicht zu leben..."
Die Armenier sind nicht - wie es in der Türkei bis heute offiziell dargestellt wird - Opfer eines Krieges, bei dem auf allen Seiten gelitten und gestorben wurde, sondern sie sind Opfer einer gezielten Ausrottungspolitik, die im Schatten eines Krieges stattfindet.
Das deutsche Kaiserreich sah keinen Handlungsbedarf
Taner Akcam ist einer der wenigen türkischen Wissenschaftler, die das, was damals passierte, unverblümt einen "Völkermord" nennen: "Das Wichtigste war, dass die Osmanen den Krieg verloren hatten und wussten, dass nicht mehr zu retten war, was die Ostgebiete des Reiches angeht, und sie wussten, dass sie das Problem nur dadurch lösen konnten, indem sie nicht mehr zulassen, dass Armenier in dieser Gegend leben. Das war das Entscheidende für den Völkermord... Es gab von seiten der Amerikaner und der Europäer Angebote während dieser Deportationszeit. Das wurde ganz klipp und klar abgelehnt, weil man dieses Problem weghaben wollte."
Das deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich sind im Ersten Weltkrieg Verbündete. Die deutsche Regierung ist über ihre Konsulate in Ostanatolien und Kilikien durchaus über das grausame Geschehen informiert, sieht aber, abgesehen von einigen halbherzigen Protesten, keinerlei Handlungsbedarf.
Ralph Giordano hat immer geglaubt, dass dieses Verhalten die "Blaupause" für den nächsten Völkermord lieferte: "Es war bekanntlich Adolf Hitler, der am 22. August 1939, also am Vorabend des Zweiten Weltkriegs vor den versammelten Kommandeuren der SS-Totenkopfverbände und einer nur allzu willfährigen Wehrmachtsgeneralität prophezeite: "Dies wird kein Krieg wie vorangegangene Kriege; dies wird ein Krieg gegen Mann, Weib und Kind." Um dann fortzufahren: „Wer erinnert sich heute noch an die Vernichtung der Armenier..?"
Die deutschen Bündnispartner können an den politischen Absichten der türkischen Regierung kaum Zweifel haben. Doch das ungetrübte Verhältnis zur Türkei scheint ihnen wichtiger als die Solidarität mit einem kleinen, bedrängten Land, das der Idee eines modernen Nationalstaates im Weg steht.
Doch es gibt Zeugen. Etwa den Schriftsteller Armin T. Wegner, der die blutigen Ereignisse und die Deportationen mit versteckter Kamera festhält und mit Appellen die kaiserliche Regierung und den Präsidenten der Vereinigten Staaten aufzurütteln versucht. Und es gibt den evangelischen Missionar Johannes Lepsius, der persönlich versucht, den türkischen Kriegsminister Enver Pascha von einer anderen Armenier-Politik zu überzeugen. Vergeblich.
Bis heute kämpfen die Nachkommen der Opfer für eine Anerkennung der Taten und für das Recht auf Erinnerung an das Leid. Bis heute müssen sie erleben, dass das grausame Schicksal ihrer Vorfahren angezweifelt, verschwiegen, geleugnet wird. Denn bis heute wird das Geschehen von vor 100 Jahren von der Türkei, der Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches vehement bestritten. Ankara hält die Opferzahlen für überzogen, dementiert das systematische Töten und wehrt sich gegen den Begriff "Völkermord". All das sei, hat Ralph Giordano einmal geschrieben, "die Auschwitz-Lüge auf türkisch": "Es werde, sagt auch Minou Nikpay, Vorsitzende der Armenischen Gemeinde in Köln, hartnäckig gelogen, beschönigt, relativiert:"

Minou Nikpay: "Allabendlich zur besten Sendezeit, da wird die ganze Sache genau im Umkehrschluss erzählt, also, dass es die Armenier waren, die die Greueltaten begangen haben, dass die Armenier anderthalb Millionen Türken umgebracht haben... Es macht uns große Sorgen. Solch eine Hetzpropaganda... wird nicht ohne Echo bleiben..."
Deutschland, von Beginn an in das grausige Geschehen involviert, kann sich bis heute nicht dazu durchringen, den Begriff "Genozid" in diesem Zusammenhang zu verwenden.
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