"Der verratene Verräter" von Alexander Kobylinski

Kompliziertes Bild aus Wahn und Wirklichkeit

Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs (DA), Wolfgang Schnur (l-r), der Mitbegründer von Demokratie Jetzt, Wolfgang Ullmann und Rolf Henrich als Vertreter des Neuen Forums
Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs (DA), Wolfgang Schnur (l-r), der Mitbegründer von Demokratie Jetzt, Wolfgang Ullmann und Rolf Henrich als Vertreter des Neuen Forums © picture alliance/dpa/Peer Grimm
Von Florian Felix Weyh · 01.08.2015
Bewältigung der DDR-Geschichte, das heißt auch Aufarbeitung flächendeckenden Denunziantentums. Mit dem Anwalt Wolfgang Schnur hat sich Alexander Kobylinski einen besonders krassen Fall vorgenommen. Dabei war der Autor selbst Mandant des Stasi-Spitzels.
"Schade, dass es nur einen Schnur gibt!" Der Kirchenvertreter, der das zu DDR-Zeiten äußerte, ahnte wohl kaum, wie sehr er mit seinem Stoßseufzer in die Irre ging. Zwar trat der Bürgerrechtsanwalt Wolfgang Schnur, nur einer von zwölf zugelassenen Einzelanwälten in der DDR, bisweilen recht forsch gegenüber den Behörden auf, aber das konnte er nur tun (und bei seinen Mandanten damit Eindruck schinden), weil er ein hochrangiger Spitzel war. Sogar intimste, an ihn selbst gerichtete Liebesbriefe gab er an seine Führungsoffiziere bei der Stasi weiter. Noch wenige Wochen vor dem Zusammenbruch erhielt Wolfgang Schnur einen hohen Orden vom Ministerium für Staatssicherheit.
Im Gefängnis getröstet und aufgerichtet
Das hinderte ihn allerdings nicht, sich an die Spitze der Oppositionsbewegung zu setzen. Mit seinem "Demokratischen Aufbruch" (DA) hatte er bei der DDR-Wahl im März 1990 gute Chancen, erster frei gewählter Ministerpräsident zu werden. Zwei Wochen vor der Wahl ließen ihn dann seine Führungsoffiziere hochgehen – dass er sich öffentlich gegen das MfS gewandt hatte, ließ das Fass überlaufen. Die junge Oppositionsbewegung hatte ihren ersten großen Stasi-Skandal.
Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter - Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015 - Buchcover
"Der verratene Verräter" von Alexander Kobylinski© Buchcover / Mitteldeutscher Verlag
Mit Material aus 39 Stasi-Aktenordnern, aus Gesprächen mit Schnur selbst und mit seinen Opfern hat der Journalist Alexander Kobylinski nun eine Biographie über den "verratenen Verräter" vorgelegt. Er war einst selbst Mandant von Schnur gewesen und hatte sich damals von ihm gut vertreten gefühlt. Und bis heute gibt es Opfer des eklatanten Mandantenverrats von Schnur, die ihm nichts Böses nachsagen, sondern betonen, er hätte sie im Gefängnis getröstet und aufgerichtet.
Schnur "gierte nach Aufmerksamkeit"
Vor den Augen des Lesers entsteht ein kompliziertes Bild aus Wahn und Wirklichkeit, Tragik und Perfidie, in dem eine erschreckend gutgläubige Evangelische Kirche in der DDR Schnur hohe Positionen einräumte. Den guten Christen gab Schnur überzeugend; gegenüber seinen Führungsoffizieren stritt er jeden Glauben ab. "Schnur hungerte, gierte nach Aufmerksamkeit, sein Leben lang", sagt Alexander Kobylinski.
Das einst von seiner Mutter verstoßene Findelkind spielte deshalb jahrzehntelang ein Doppel- und Dreifachspiel, bei dem es möglichst viel Aufmerksamkeit von allen Seiten erhielt. Die Liebe des Wahlvolks wäre die endgültige Krönung gewesen, und die Aussicht darauf, ließ Schnur verdrängen, dass er irgendwann über seine Verräter-Biographie stolpern musste.
Im Lesart-Gespräch geht es um Rollenbrüche und -wechsel – auch solche beim Biographen selbst: Wie ist es, jemanden mit Hilfe von Stasi-Material zu beschreiben, das keine Objektivität erlaubt? Wie tritt man einem Anwalt entgegen, der einem etwas Falsches vorgespielt hat? "Mich hat er nicht verraten", sagt Alexander Kobylinski. Vielleicht versucht das Buch deswegen, dem Phänomen in einer betont sachlichen und faktenreichen Sprache auf den Grund zu gehen.

Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter
Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015
384 Seiten, 19,95 Euro

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