Der Verlust der Heimat als Tabuthema

Rezensiert von Helga Hirsch · 23.03.2007
Manfred Kittel blickt in seinem Buch "Vertreibung der Vertriebenen?" auf die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik zurück. Er stellt fest, dass die westdeutsche Gesellschaft seit den 60er Jahren das Thema Vertreibung der Deutschen angesichts der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und der sich abzeichnenden Entspannungspolitik weitgehend verdrängte.
Hat Günter Grass ein tabuisiertes Thema aufgegriffen, als er im "Krebsgang" über den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff schrieb? Oder ist die Vertreibung der Deutschen niemals aus dem bundesrepublikanischen Diskurs verdrängt worden? Das Feuilleton stritt nach dem Erscheinen des Grass-Romans im Jahre 2002 wochenlang und erbittert über diese Frage – und demonstrierte damit vor allem eins: Noch immer findet die Diskussion über Vertreibung in einem verminten Gelände statt, und unser Wissen über ihre Rolle im öffentlichen Gedächtnis seit Kriegsende ist noch immer äußerst begrenzt.

Manfred Kittel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und Geschichtsprofessor in Regensburg, hat nun versucht, diese Lücke zu füllen. Im Zentrum seines Interesses stehen jene 60er und 70er Jahre, in denen nach Meinung der Landsmannschaften die Marginalisierung des Themas begann.

"Hat tatsächlich eine ‚zweite Vertreibung’ stattgefunden, jene Vertreibung aus der Erinnerung, die der karpatendeutsche Politiker Adalbert Hudak 1975 in die bitteren Worte fasste: ‚Dreißig Jahre danach ist die Vertreibung der Vertriebenen vollkommen.’?"

Hat also auch in der Vertriebenenpolitik ein Paradigmenwechsel stattgefunden, als der Kalte Krieg in eine Zeit der Entspannung zwischen den Blöcken überging?

Für die 50er Jahre konstatiert Kittel noch eine breite öffentliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Heimatverlust – nicht zuletzt aufgrund des regierungsamtlich geförderten Projekts der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost - Mitteleuropa" unter der Leitung von Theodor Schieder. Spätestens seit 1960 aber geriet, so Kittel, der Diskurs über die Vertreibung in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Diskurs über die NS-Verbrechen. Angeheizt durch entsprechende Kampagnen aus Ostberlin wurden die Bundespolitiker Hans-Christoph Seebohm und Theodor Oberländer, beides prominente "Ostdeutsche", wegen deutsch-nationaler Ansichten beziehungsweise wegen ihrer Verflechtung mit dem nationalsozialistischen Regime einer massiven öffentlichen Kritik unterzogen. Obwohl – so Kittel - der "Anteil wirklich nationalsozialistisch belasteter Personen in den Spitzenpositionen der Vertriebenenverbände keineswegs überdurchschnittlich hoch war", entstanden die Urteile vom "hässlichen, mehr oder weniger angebräunt wirkenden Ostdeutschen" und von der besonderen Schuld der Ostdeutschen am Erfolg des Nationalsozialismus.

"Der Topos von der ostdeutschen Spezialschuld floss zumindest implizit in eine … Argumentation ein, wonach die kollektive Verantwortung der Deutschen für die verbrecherische Ostpolitik der Nationalsozialisten den Verzicht auf die ehemals deutschen Siedlungsgebiete begründe. ‚Einer muss die Zeche zahlen’, lautete die … Standardformel, die den Ostdeutschen besonderes Pech attestierte, weil sie aufgrund der geographischen Lage ihrer Heimat stellvertretend für das schuldig gewordene deutsche Volk zu büßen hätten."

Mit vielen Beispielen aus Literatur, Medien und Wissenschaft beschreibt Kittel die sich zuspitzende Auseinandersetzung: Einerseits fand die realpolitisch begründete Forderung nach Verzicht auf die Ostgebiete mit dem WDR-Intendanten Klaus von Bismarck, dem Publizisten Sebastian Haffner oder dem Historiker Golo Mann immer mehr intellektuelle Fürsprecher. Andererseits aber rührten Autobiografien und Romane über die Vertreibung – etwa das "Ostpreußische Tagebuch" von Hans Graf von Lehndorff und die Danziger Trilogie von Günter Grass – immer noch die verletzten Seelen und führten die Bestsellerlisten an.

Ähnlich gespalten war die Lage auf dem Medienmarkt. Der Springer-Verlag setzte selbst nach dem Mauer-Schock weiter auf Strategien zur Wiedervereinigung West-, Mittel- und Ostdeutschlands; die großen Hamburger Wochenzeitungen "Der Spiegel", der "Stern" und die "Zeit" hingegen waren mehr und mehr zur Aufgabe des deutschen Ostens bereit, und die ARD strich die Orte Königsberg und Breslau als Orientierungsmarken aus ihrer Wetterkarte. Marion Gräfin Dönhoff, die 1964 noch der Ansicht gewesen war, es sei keinem Vertriebenen zuzumuten, "den Verzicht auf Land auch noch auszusprechen", machte sich bei Abschluss des Warschauer Vertrags 1970 für eben diesen Verzicht stark. Da nie zuvor "einem Volk soviel Leid zugefügt worden" sei wie dem polnischen, wollte Dönhoff "es den Polen" nicht mehr "verdenken", dass sie Millionen Ostdeutsche vertrieben hätten. Eine Bestätigung für Kittels These:

"Je stärker das Dritte Reich und seine Verbrechen … in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerieten, desto mehr galt der große Exodus von 1945 nur noch als Ergebnis dieser deutschen Katastrophe und insofern als Geschehen von nachgeordnetem Interesse."

Zumindest deklamatorisch hielten alle Parteien bis Ende der 60er Jahre an den Grenzen von 1937 fest. Doch mochte die Pflege des Kulturguts auch noch einmal zu einer Scheinblüte führen, mochten Heimatstuben errichtet, westdeutsche Autobahnraststätten nach ostdeutschen Städten benannt und Briefmarken mit ostdeutschen Motiven versehen werden, so waren SPD und FDP doch zunehmend bereit, das Einvernehmen mit den Landsmannschaften für einen Ausgleich mit den Nachbarn im Osten zu opfern. Mit dem Regierungswechsel 1969 wurde der Paradigmenwechsel zur offiziellen Politik.

"Was mindestens bis 1965 zu der von allen demokratischen Parteien getragenen politischen Kultur gehörte: den Verzicht auf die Ostgebiete und das Heimatrecht der Vertriebenen als Verrat zu brandmarken, das galt schon fünf Jahre später, 1970, plötzlich als moralisch vollständig verwerflich, wenn nicht rechtsradikal."

Die SDP/FDP-Regierung erkannte die Oder-Neiße-Grenze de facto an, sie schaffte das Vertriebenenministerium ab und reduzierte die Zuwendungen für den Vertriebenenverband innerhalb von drei Jahren um die Hälfte. Eine 1974 vom Bundesarchiv fertig gestellte Dokumentation der Vertreibungsverbrechen wurde acht Jahre lang unter Verschluss gehalten. Die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn sollten nicht belastet werden. So lebte der deutsche Osten nur noch in der Erinnerung der Vertriebenen, ging aber nie ein in das kollektive Gedächtnis der westdeutschen Mehrheit.

"Die alteingesessene westdeutsche Bevölkerung … arbeitete mehr am realen Wirtschaftswunder, als auf das Wunder an der Oder zu hoffen oder auch nur ‚Trauerarbeit’ um den Verlust des deutschen Ostens zu leisten – schon weil die Westdeutschen an der Bewältigung der Kriegsfolgen als schwer Versehrter, als Witwe oder Ausgebombter selbst schwer zu tragen hatten."

Die Vertriebenen – so Kittels eindeutiges und überzeugendes Resümee – waren und sind die Verlierer dieser Entwicklung. Auf faszinierende Weise belegt er die Instrumentalisierung ihres Schicksals im Kontext von Außen- und Erinnerungspolitik. Verloren hat aber auch die bundesrepublikanische Gesellschaft, da das Wissen über die jahrhundertelange deutsch-slawische "Konfliktgemeinschaft" fast vollständig verschüttet wurde.

Kittel hat mit seinem sehr lesbaren Buch wertvolle Differenzierungen auf Seiten der Entspannungspolitik gewiesen. Nun wünschen wir uns eine ähnlich differenzierte Analyse von ihren Gegenspielern. Waren Ängste im linken und liberalen Milieu wegen möglicher revanchistischer Tendenzen im Vertriebenenverband gerechtfertigt? Oder waren und sind die Landsmannschaften als Feindbild nur allzu willkommen, um das Thema als solches zu diskreditieren? War es eine unvermeidliche Tragik, die die Lager so auseinander trieb, oder hätte es eine Alternative gegeben?

Bis heute hat sich die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht darauf einigen können, welcher Platz der Vertreibung im öffentlichen Gedächtnis zukommen soll.

Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen?
Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982)

R. Oldenbourg Verlag München 2007
Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen?
Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen?© R. Oldenbourg Verlag