Der unbequeme Nazi-Aufklärer

30.01.2013
Anlässlich des 100. Geburtstages legt Klaus Kempter eine Biografie des Auschwitz-Überlebenden Joseph Wulf vor. Wulf war in den 50er-Jahren der erste Historiker, der in Deutschland Bücher zum Holocaust publizierte. Er trug wesentlich zur Aufklärung über die Nazi-Zeit bei.
Am 10. Oktober 1974 sprang in Berlin-Charlottenburg ein Mann aus dem vierten Stock in den Hinterhof. Er hieß Joseph Wulf. Zwei Monate zuvor hatte er seinem Sohn in Paris geschrieben: "Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein - und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen."

Bonn hatte damals die sozialliberale Koalition, wenn auch nicht mehr unter Willy Brandt, und Judenmörder blieben weitgehend unbehelligt. Der 1968er Zeitgeist las die Welt lieber mit der "Faschismus-Imperialismus"-Brille und ermächtigte sich damit selbst zu einem als Antizionismus getarnten modernen Antisemitismus. Und der historiographische Mainstream wertete die Vernichtung der europäischen Juden noch immer als Randgebiet der NS-Forschung.

Joseph Wulf kam von just diesem Rand, als Zionist und "galizischer Jude", wie er sich stolz nannte, der fast zwei Jahre Auschwitz überlebt hatte und sein Leben danach der Aufgabe widmete, die Deutschen mit allen greifbaren Dokumenten darüber aufzuklären, dass der Judenmord kein Ausrutscher, sondern der mörderische Kern ihres Nazistaates gewesen war.

Für die tonangebende Forschungselite vor allem am Münchener Institut für Zeitgeschichte war dieser autodidaktische Historiker kraft eigener Autorität nicht ernst zu nehmen, weil viel zu betroffen. Erst 2003, fast dreißig Jahre, nachdem Wulf sich buchstäblich "totdokumentiert" hatte, holte ihn Nicolas Berg, Historiker einer neuen Generation, zurück in die wissenschaftliche community - als "Pionier" der Shoah-Forschung. Und jetzt ist die Biografie des Heidelberger Historikers Klaus Kempter erschienen, haarfein recherchiert und wunderbar geschrieben.

Wulf hat ab 1955 als erster (anfangs zusammen mit Léon Poliakov) Bücher über den Judenmord publiziert und auch das kontinuierlich aktive Nazi-Personal aus Justiz, Auswärtigem Amt und Wehrmacht enttarnt; seine zahllosen Artikel und Radiofeatures hatten in den 50er- und frühen 60er-Jahren durchaus Wirkung. Mitte der 60er-Jahre versuchte er, das Haus der Wannseekonferenz zur internationalen Dokumentationsstätte zu machen, der Berliner Senat winkte ab.

Kempter reißt aber nicht nur Wulfs voluminöses Werk und immense Verdienste aus dem Nebel des "Vergessens", er lässt auch einen Menschen lebendig werden, dessen Geschichte so exemplarisch und der gleichzeitig immer ein Solitär ist. Ein Intellektueller aus kultiviertem polnisch-jüdischem Haus, Partisan des militanten Untergrunds in Krakau, der sofort nach der Befreiung die Zentrale Jüdische Historische Kommission mitgründete und sich, empört über die kommunistische Lesart von gedenkwürdigem Widerstand und weiter wütendem Antisemitismus in Polen, für staatenlos erklärte, nach Berlin zog und seine Pionierarbeit begann.

Kempters großes historisches Verdienst ist es, zum ersten Mal den polnisch-ostjüdischen Kontext von Wulfs frühem Leben zu erhellen. Seine literarische Meisterleistung ist, die bräsig-infamen Intrigen der Legendenbildner des Nachkriegs so minutiös nachzuzeichnen, dass man hinsichtlich der Aufklärung der Verbrechen nur den Schluss ziehen kann: Hier ist nicht ein Außenseiter zu früh gekommen - er ist vielmehr an eine sich mutwillig verspätende Nation geraten.

Besprochen von Pieke Biermann

Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland
Band 18 der Schriften des Simon-Dubnow-Instituts
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Göttingen 2012
422 Seiten, gebunden, 64,99 Euro