Der unbekannte Dichter

16.06.2009
Lange nach dem Zusammenbruch der DDR wird Herr W. eingeladen zu einem Dichter-Kongress - obwohl er sich selbst nie als Dichter gesehen hat. Seine Stasi-Unterlagen sollen ihn als regimekritischen Literaten ausweisen. - Rayk Wieland hat mit "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" einen Roman mit viel Ironie und schnoddrigem Witz vorgelegt.
Kann einer Dichter sein, ohne zu wissen, dass er Dichter ist? Eigentlich nicht, sollte man meinen. Es geht aber doch. In Rayk Wielands Roman nimmt Herr W., der Ich-Erzähler, eines schönen Tages – da "war die DDR weit weg und irgendwo im Umfeld des Ersten Weltkriegs abgestiegen" – einen Anruf entgegen. Die Vorsitzende des "Vereins der unbekannten Untergrunddichter Deutschlands" lädt ihn zu einem Symposium ein, das den weitreichenden Titel trägt: "Dichter. Dramen. Diktatur. Nebenwirkungen und Risiken der Untergrundliteratur in der DDR". Herr W. ist ziemlich überrascht, dass man ausgerechnet auf ihn verfällt, um zum Thema zu referieren. Als unbekannten Untergrunddichter hatte er sich nie gesehen, aber eine Anfrage bei der Gauck-Birthler-Stasi-Unterlagen-Behörde belegt es: Man hatte Herrn W. verleumdet.

Die Geschichte reicht zurück in die 80er-Jahre, als W. Student der (marxistisch-leninistischen) Philosophie in Ostberlin war. Kein Karrierezögling der Partei, sondern einer, der sich den Weg zum höheren Wissen durchaus hart erarbeiten musste über eine Elektrikerlehre und ein abendliches Volkshochschulabitur. Ein kritisch-künstlerisch inspirierter Geist, der dabei eher mit Unterwelt- als mit Umweltgruppen in Berührung stand. Ein zum Zynismus neigender Bohemien, der auffällig wird, weil ein Freund von ihm mit dem genialischen Plan, die DDR ausgerechnet über die Sowjetunion zu verlassen, scheitert, und weil er sich obendrein in eine junge Frau aus München verliebt, der er fortan schwärmerische Liebesbriefe und seine Gedichte zusendet und die er hin und wieder trifft während ihrer Besuche in Berlin (Ost).

Dem Aktenleser W. enthüllt sich seine Identität als regimekritischer Dichter – rund 20 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen – aus den Oberservationsberichten der Stasi. Er, der keine Ambitionen hatte, als Literat oder Oppositioneller zu reüssieren, findet sich als solcher ernst genommen in den Stasi-Unterlagen aus jener Zeit. Spitzelberichte, Protokolle heimlicher Wohnungsdurchsuchungen, Briefauszüge, absurde Interpretationen seiner Gedichte und Texte – all das ist fixiert in den Akten, aus denen der Romantext großzügig zitiert, die dem Ich-Erzähler aber auch Anlass geben, die realen Geschehnisse zu rekonstruieren. Es entsteht eine durch und durch groteske Situation: So wenig W. ahnte von seiner fast hautnahen Beschattung durch die Stasi und ihre Helfer, so wenig kann er mit seiner neuen Rolle als ehemaliger verfolgter Untergrunddichter anfangen. Auf beide "Mystifizierungen" seiner Person blickt der Held mit viel Ironie, großer Lust an zugespitzten Pointen und schnoddrigem Witz. Dieser Ton und manche Äußerung des Helden werden Irritationen hervorrufen, und genau so war das wohl vom Autor intendiert. Im besten Fall führen sie zu einer Reflexion über tiefreichende Fragen, die der Roman ebenso aufwirft: Wie formen sich unsere Erinnerungen? Sind diese Erinnerungen authentisch oder manipuliert? Wie entsteht und wer schreibt Geschichte? Solche Fragen über ein Lachen zu präsentieren ist eine der Qualitäten dieses Romans.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Rayk Wieland: Ich schlage vor, dass wir uns küssen
Roman
Verlag Antje Kunstmann, München 2009
208 Seiten, 17,90 Euro