Der umgekehrte Superman

19.08.2010
Ein Junge bewundert Superman. Doch ihn fasziniert nicht dessen unendliche Kraft, sondern die Momente von Schwäche und Versagen. Alan Pauls zeigt in seinem neuen Roman einen empfindsamen Helden.
Als vor einem Jahr Alan Pauls erster Roman "Die Vergangenheit" auf Deutsch erschien, druckte der Verlag ein Zitat des chilenischen Autors Roberto Bolaño auf den Umschlag: "Einer der größten lebenden Autoren Südamerikas!" Pure Vorschusslorbeeren: Die 600 Seiten lange Liebes- und Trennungsgeschichte erzeugte hierzulande ein geteiltes Echo. Und durchweg verwundert war man darüber, dass sich dieser im Argentinien der Militärdiktatur spielende Roman in einem zeitlosen Raum zu bewegen schien.

Ganz anders nun die "Geschichte der Tränen". Auf knappem Raum erzählt der als Novelle angelegte neue Roman von einem hypersensiblen Jungen, der sich in "Superman" verliebt und nach Vorlage dieser Heldengeschichte seine Kindheit in den 1960er-Jahren durchlebt. Doch bewegt ihn nicht so sehr die stählerne Konstitution, die jene Comicfigur zumeist als Sieger dastehen lässt, ihn bewegt deren fallweises Scheitern. Er bewundert nicht die Heldentaten eines Kraftprotzes, sondern dessen Momente von Schwäche und Versagen.

Erst aus der misslungenen Bewährungsprobe, so die altkluge Erkenntnis des Jungen, gewinnt das Leben seine Spannung. Auf diese Weise entwickelt er sich zu einem umgekehrten Superman und bildet eine geradezu anomale Fähigkeit des Verstehens und der Solidarität aus. Ungewöhnlich für ein Kind seines Alters bringt er Menschen zum Sprechen, sie schütten ihm ihr Herz aus, er vergießt dabei jede Menge Tränen. Fremdes Unglück versetzt ihn in einen Aufruhr der Gefühle, in eine Orgie der Anteilnahme - gleich ob er einen hinkenden Hund, paradierende Militärs oder den einsamen Nachbarn sieht, über dessen Herkunft niemand Genaues weiß. Er ist der Inbegriff von Mitgefühl, womit er sich nicht nur die Anerkennung seines Vaters erkauft, der sein Wunderkind wie eine Trophäe herumzeigt.

Alan Pauls zeigt seinen empfindsamen Helden in drei Entwicklungsphasen: als Kind, das wie Oskar Matzerath über magische Eigenschaften verfügt, als jugendlichen Sozialisten, der nichts lieber täte, als sich in den bewaffneten Kampf gegen die Militärs zu stürzen, und als Erwachsenen, der allerorten auf die Spuren eines von der vergangenen Diktatur geschundenen Landes trifft. Angelpunkt der Handlung aber ist die Begegnung mit jenem mysteriösen Nachbarn, der das von seinen Eltern vernachlässigte Kind hin und wieder beherbergt. Ist der Mann in Uniform mit den zarten Händen ein Scherge des Systems, ein Folterer?

Immer wieder umkreist Alan Pauls aus verschiedensten Perspektiven diese Frage. Ihr sprachliches Äquivalent findet sich in manisch langen, oft über mehr als eine Seite wuchernden Schachtelsätzen. Sie mischen, zwischen den Zeiten hin- und her springend, virtuos reflexive Passagen über Schmerz und Solidarität, über Empathie und geborgtes Leid in die Handlung. Da gibt es Formulierungen voll federnder Musikalität, aber manchmal verliert sich die wild mäandernde Syntax auch im Ungewissen. Radikal ist dieser Roman über eine "education sentimentale" zu Zeiten einer Diktatur allemal, im Guten wie im Schlechten.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Alan Pauls: Geschichte der Tränen
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2010
144 Seiten, 17,95 Euro
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