Der Übergang von der Tradition in die Moderne

24.11.2010
Nachdem sein erster Sohn von Geburt an kränklich ist, überträgt der wohlhabende Geschäftsmann Idi Ben Said seinen Ehrgeiz auf seine als Zweite geborene Tochter Yamina, die das Abitur macht und in Tunis studiert. Zwischen Ehrgeiz, Tradition und Liebe gerät Yamina in immer schwerwiegendere Konflikte.
1956 erlangt Tunesien die Unabhängigkeit von Frankreich unter der Führung von Habib Bourguiba, der seine Vision von einem Land der Moderne als Präsident umsetzt. Hier beginnt die Geschichte der Familie von Idi Ben Said, der als Weggefährte von Habib Bourguiba reichlich entlohnt wird und obwohl er weder lesen noch schreiben kann, zu einem wohlhabenden Geschäftsmann aufsteigt.

Auch er teilt die fortschrittlichen Ideen des Staatspräsidenten. Nachdem sein erster Sohn Ismael von Geburt an kränklich ist, überträgt Idi Ben Said seinen Ehrgeiz auf seine als Zweite geborene Tochter Yamina. So wird sie als erstes Mädchen in Kalâa Kebira zur Schule geschickt. Yamina nimmt die ihr vom Vater zugeschriebene Rolle an und erträgt den Spott ihrer Klassenkameraden. Sie macht ebenfalls als erstes Mädchen in Sousse, wohin die wohlhabende Familie inzwischen gezogen ist, Abitur und wird von ihrem Vater gedrängt, in Tunis zu studieren.

Allerdings steht auf der anderen Seite die Mutter, die an ihrer traditionellen Rolle und dem großen Einfluss der Religion festhält. Immer wieder legt sie den Schleier an, nachdem ihr Mann ihn ihr vom Kopf gestrichen hat. Auch die anderen Kinder der Familie besuchen gute Schulen und machen Abitur, doch einzig Yamina erhält die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters, der ihr eine ganz besondere Zukunft voraussagt. Voller Selbstverständlichkeit geht Yamina von ihrer scheinbaren Überlegenheit aus.

Die junge Frau studiert in Tunis Ökonomie und wohnt bei ihrer Tante. Schon bald verliebt sich der Student Youssef in sie. Die beiden halten Händchen, trinken Tee mit grünen Mandeln und verloben sich heimlich. Als Youssef sein Diplom mit Auszeichnung besteht und eine Stelle in Frankreich angeboten bekommt, hält er bei Yaminas Vater um ihre Hand an. Der Vater akzeptiert diese modernen Sitten, bei denen sich die Kinder die Ehepartner aussuchen, verlangt jedoch, dass Yamina ihr Studium erst abschließt.

Kurze Zeit später lernt sie den Medizinstudenten Said kennen und verliebt sich in ihn. Als Said bei seiner konservativen Familie die Erlaubnis für ihre Heirat einholen will, löst Yamina ihre Verlobung mit Youssef. Doch Saids Familie besteht darauf, dass er seine Cousine, die ihm schon als Kind versprochen wurde, heiratet. Für Yamina bricht eine Welt zusammen. So sucht sie sich schließlich sogar Hilfe im Bazar von Tunis bei Wahrsagerinnen und Wunderheilern.

In 48 kurzen Kapiteln zeichnet Angelica Ammar ein prägnantes Bild von Yamina und ihrer Familie in der Zeit des radikalen Übergangs von der Tradition in die Moderne mit allen Schwierigkeiten und Verwicklungen, die damit für die einzelnen Personen entstehen. Atmosphärisch dicht, bildreich und in knappen Sätzen beschreibt die Autorin diese teils exotisch wirkende Welt sehr feinfühlig. Sie bleibt dabei stets die exakte Beobachterin, ohne zu werten und lässt damit allen Personen Raum sich zu entwickeln.

Fast unmerklich beschreibt sie das zunehmende Scheitern der Hauptfigur, die mit ihren eigenen Bedürfnissen und den unterschiedlichsten Anforderungen ihrer Umwelt kein schlüssiges Lebenskonzept findet und doch an ihren Träumen von der großen Liebe festhält. Damit ist es Angelica Ammar in diesem stillen, knappen Roman gelungen, den Sprung Tunesiens von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart auf so facetten- wie kenntnisreiche Weise aufzuzeigen.


Besprochen von Birgit Koß


Angelica Ammar, Die Zeit der grünen Mandeln
Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München, 2010
128 Seiten, 14,90 Euro