Der Traum vom Frieden ist noch wach

Von Felix de Cuveland · 03.03.2010
Am kommenden Sonntag wählen die Iraker ein neues Parlament, trotz anhaltender Gewalt und vieler ungelöster Probleme. Alle sind sich einig: Nach sieben Jahren Krieg und Bürgerkrieg braucht das Zweistromland eine handlungsfähige Regierung, um auch ohne Besatzer halbwegs stabil zu bleiben. Deshalb schaut auch das Ausland auf den Wahltermin – vor allem die USA, die ihre Truppen in einem knappen halben Jahr zügig verringern wollen, und der einflussreiche große Nachbar Iran.
Hissam al-Khoury: "Noch immer herrscht Gewalt. Völlig unbeteiligte Menschen werden getötet. Wenn es keine echte Versöhnung im Irak gibt, wird es auch keinen Frieden geben."

- sagt Hissam al-Khoury, Schuldirektor in Bagdad. Versöhnung - das wollen fast alle. Endlich die Zeit der Gewalt hinter sich lassen. Der Traum vom Frieden ist noch wach.

Lanza: "Fehlende Jobs, schlechte Versorgungslage, die Zukunft des Irak und die Sicherheit. Das sind die Dinge, die die Menschen beschäftigen.""

- sagt ein amerikanischer Armeesprecher. Doch die Hoffnung, dass die Wahlen etwas zum Besseren wenden können, ist nicht allzu groß. "Demokratie" ist für viele Iraker immer noch ein ziemlich abstrakter Begriff. Sicherheit, elektrischer Strom, Wasser, Brot und Schulen für die Kinder: Das ist es, was die Menschen beschäftigt, tagtäglich. Issam Chalabi, Ex-Ölminister:

"Noch immer gibt es kaum elektrischen Strom, viele haben keinen Zugang zu Trinkwasser, das Gesundheitswesen ist katastrophal, genauso die Situation in den Schulen – und auf diesem Nährboden hat sich die Korruption ausgebreitet."

Und das Parlament ist nicht gerade für effektive und überzeugende Arbeit bekannt. Im Gegenteil: Tumult, Handgemenge, Geschrei. Szenen wie diese sind nicht selten im irakischen Parlament.

6.000 Kandidaten treten an bei dieser zweiten Parlamentswahl seit Sturz Saddam Husseins. 300 Parteien, Parteienbündnisse und Einzelpersonen stellen sich zur Wahl. Gute Aussichten, die stärkste Fraktion im neuen Parlament zu stellen, hat der schiitische dominierte Block Irakische National-Allianz von Amar al-Hakim.

Hakims Hauptkonkurrent ist der amtierende Ministerpräsident Nouri al-Maliki, dessen Dawa-Partei sich mit einer Reihe anderer Parteien zu einem Wahlbündnis namens "Rechtsstaat" zusammengeschlossen hat.

Schwer angeschlagen – schon vor der Wahl - ist die mehrheitlich sunnitische Irakische Nationalbewegung Iraqija, nachdem ihrem Spitzenpolitiker Saleh al-Mutlaq die Teilnahme untersagt wurde - unter dem Vorwurf zu enger Verbindungen zur verbotenen früheren Baath-Partei Saddam Husseins.

Das Bündnis tritt für einen starken Zentralstaat ein und möchte verhindern, dass nach den Kurden im Norden auch noch die Schiiten im Süden ihre öl- und erdgasreiche Region selbst verwalten können. Dann nämlich - so fürchtet Iraqija - würde die 20-prozentige sunnitische Minderheit im ölarmen Zentralirak, weitgehend auf sich gestellt, das Nachsehen haben.

Möglichst viel Selbstverwaltung, möglichst wenig Zentralstaat will dagegen die Kurdistan-Allianz, die ihre Basis in der autonomen Kurdenregion des Nordirak hat. Die Allianz besteht hauptsächlich aus den Parteien PUK und KDP und fordert, dass der ölreiche Großraum Kirkuk der Zuständigkeit Bagdads entzogen und der kurdisch verwalteten Region im Norden zugeschlagen wird.

Saleh al Mutlaq: "Jeder will das Land regieren, aber keiner hat die Erfahrung dafür und keiner hat die politischen Zielvorstellungen."

- kritisiert Saleh al Mutlaq. Der Mann ist ein politischer Insider im neuen Irak, er hat nach dem Irak-Krieg von 2003 bis heute am Wiederaufbau des Landes mitgearbeitet. Das half ihm nichts: Die sogenannte Gerechtigkeitskommission, die die politische Vergangenheit der Kandidaten in der Zeit Saddam Husseins durchleuchtet, schloss ihn zusammen mit rund 400 weiteren Bewerbern von der Wahl aus. Begründung: zu große Nähe zur verbotenen früheren Baath-Partei. Mutlaq reagierte empört:

"Die Sunniten spüren jetzt, dass sie nicht an der Regierung dieses Landes beteiligt werden. Deshalb werden sie sich wehren, deshalb werden sie kämpfen. Sie werden kämpfen! Wenn nicht heute, dann morgen."

Auch Ahmed Sabri, Journalist bei kuwaitischen Zeitung "Al Watan", glaubt, dass die Begründung nur vorgeschoben ist:

"Jetzt wird versucht, einen Teil der politischen Partner, die in die Verantwortung für das Land eingebunden waren, kaltzustellen. Das kann sehr gefährlich werden."

"Nichts ist jetzt wichtiger als Versöhnung," mahnt General Odierno, der Oberkommandierende der US-Truppen im Irak:
"Die Iraker müssen besser miteinander zusammenarbeiten. Das hat etwas mit Kompromissfähigkeit zu tun. Sie müssen lernen, Kompromisse zu schließen, damit sie ihr Land voranbringen können. Das ist Voraussetzung dafür, dass der Irak wirklich eigenständig wird."

Doch die Kandidatensperre spaltet das Land. Das wird Folgen haben, fürchtet der ehemalige Ölminister Issam Chalabi:

Issam Chalabi: "Diese Leute, denen man versprochen hat, sie an der Macht zu beteiligen und sie in den politischen Prozess einzubinden, werden nun vor den Kopf gestoßen. Das kann dazu führen, dass die Gewalt wieder voll ausbricht. Das muss einem Sorgen machen."
Eine Gewalt, die aus dem Gefühl geboren wurde, keine Chance in einem künftig schiitisch dominierten Irak zu haben. Die erste Parlamentswahl nach dem Sturz Saddam Husseins hatten die Sunniten 2005 sogar boykottiert.

Die Zahl der Anschläge geht zwar seit über drei Jahren zurück, aber verschwunden ist die Gewalt keineswegs. Anschläge in Bagdad, Anschläge in Mossul, Anschläge in der Provinz Anbar. Das ist immer noch Alltag – auch wenn es inzwischen keine Schlagzeilen mehr macht.

Lanza: "In den vergangenen Monaten hat es etliche Anschläge in der Provinz Anbar gegeben. Al-Kaida versucht, in einigen Städten wieder Fuß zu fassen – aber es gelingt ihnen nicht."

- sagt ein amerikanischer Militärsprecher. Noch stehen fast 100.000 US-Soldaten im Land. Ende nächsten Jahres werden sie den Irak komplett verlassen haben. Jetzt macht der iranische Einfluss im Alltagsleben manchem Angst. Ahmed Sabri, der Journalist:
" Zwischen vielen der Regierenden im Irak und der Führung im Iran gibt es enge Beziehungen. Die Menschen im Irak spüren den iranischen Einfluss überall. Nehmen Sie die Währung: In einigen Gegenden im Süden des Irak wird mit iranischer Währung bezahlt. Viele Iraner kommen in den Irak, vor allem in Städte mit schiitischen Heiligtümern wie Nadjaf und Samarra. Und die Märkte Iraks werden überschwemmt mit iranischen Billigwaren."

Misstrauisch beobachten auch die sunnitisch-arabisch geprägten Nachbarregierungen den Einfluss des schiitischen Iran. US-Botschafter Christopher Hill:

"Es ist wirklich die Frage: Ob eine Region, die von Regierungen sunnitischer Staaten beherrscht wird, ein arabisches Land akzeptieren wird, das voraussichtlich von Schiiten geführt wird? Ob die Nachbarländer dazu bereit sind."

Sie zweifeln an der Verlässlichkeit Malikis. Der war in den vergangenen Jahren auch nicht immer der Liebling Washingtons - ein schiitischer Ministerpräsident, der häufig den Kontakt mit der Führung des Iran sucht, mit dem die USA im Atomstreit liegen. Doch anders als im Westen oft vermutet wird, stammen die meisten ausländischen Untergrundkämpfer nicht aus dem Iran, sondern aus Saudi-Arabien, Syrien und anderen überwiegend sunnitisch geprägten Staaten.

14 Armeedivisionen und Hunderttausende Polizisten und Angehörige von Spezialeinheiten werden Wähler und Wahllokale schützen. Vom 6. bis 8. März gilt landesweit eine nächtliche Ausgangssperre. Al Kaida habe Anschläge angekündigt, sagte Ministerpräsident Maliki:

" Sie wollen den Irak ins Chaos stürzen. Sie sind Sektierer, die das Gesamtwohl nicht interessiert. Ich appellierte an alle Iraker: Vergießt nicht das Blut Eurer Landleute. Niemand darf in diesem Land Gewalt anwenden, um Konflikte zu schüren."

Der Regierungschef präsentiert sich im Wahlkampf als Garant für Sicherheit und einen starken Staat. Das kam schon bei den Provinzwahlen 2009 gut an, wo er prompt hohe Gewinne einfahren konnte – zulasten seiner ebenfalls schiitischen Konkurrenten.

Er ist schwer einzuordnen - der 59-jährige stoppelbärtige, immer etwas mürrisch aussehende Ministerpräsident Maliki. Als er im April 2006 als neuer Regierungschef antrat, galt er bei den einen als Marionette der USA, bei den anderen als Handlanger des schiitischen Regimes im benachbarten Iran.

Nach und nach zeigte er dann allen Seiten die Zähne: machtbewusst und durchsetzungsfähig – auch gegenüber politischen Kräften aus dem eigenen, dem schiitischen Spektrum.

Doch die Grundprobleme des Landes sind weiter ungelöst. Was ist mit den offenen Rechnungen der Vergangenheit - Entführungen, Morde, Vertreibungen? Wird es - und kann es - eine nationale Versöhnung geben? Wie können die Streitereien zwischen irakischen Arabern und Kurden um die ölreiche Stadt Kirkuk gelöst werden? US-General Odierno:

"Es gibt noch immer eine Menge ungelöster Probleme, die angepackt werden müssen: Versöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen, arabisch-kurdische Spannungen, Konflikte innerhalb der schiitischen Gemeinschaft, Probleme zwischen Sunniten und Schiiten – das muss alles aufgearbeitet werden. Diese Konflikte sind genau die Themen, die bei der Parlamentswahl jetzt im Mittelpunkt stehen."

Es sind die wichtigsten irakischen Wahlen seit dem Sturz Saddam Husseins. Schließlich sollen die amerikanischen Truppen den Irak bis Ende 2011 komplett verlassen haben. Die Regierung in Bagdad wird also auf sich selbst gestellt sein. Sie muss sich behaupten im Spannungsfeld zwischen den USA, dem Iran und den sunnitisch geprägten arabischen Staaten.

Saleh al Mutlaq: "Wir haben jetzt eine Million Soldaten und Polizisten im Irak. Das Problem ist das Chaos in der Verwaltung. Die Regierung hat keine Erfahrung, wie man ein Land regiert. Verschiedenste Behörden sind für die Sicherheit zuständig. Verbesserung kann es bei einem derartigen Missmanagement nicht geben. Das gleiche gilt für Wirtschaft und Landwirtschaft."

- beklagt Mutlaq, der von der Wahl ausgeschlossene sunnitische Politiker. Mehr Transparenz müsste her, mehr Kontrolle. Eine erste Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist die Änderung des irakischen Wahlrechts. Auf den Stimmzetteln stehen jetzt die Namen der Kandidaten. 2005 konnte man nur Parteien und Partei-Bündnisse ankreuzen.

"Die Iraker haben die Nase voll von den geschlossenen Listen. Da konnte man doch nur die Partei beziehungsweise den Parteichef wählen."

- sagt Ijad Allawi, früherer irakischer Regierungschef. Die neuen, sogenannten "offenen Listen" ermöglichen es den Wählern, korrupte und unfähige Politiker direkt abzustrafen und anderen, die keine politische Hausmacht haben, eine Chance zu geben. Damit verbinden sich Hoffnungen auf mehr Glaubwürdigkeit, mehr Transparenz und weniger Korruption.

George Tabouri ist Unternehmer in Bagdad, er hat mehrere Geschäfte für Haushaltsgeräte – und er kennt die Sorgen der Menschen.

"Es gibt ein Sprichwort: No hope, no future. Nur wer Hoffnung hat, hat auch eine Zukunft. Tatsache ist: Es sieht ziemlich trostlos aus für die kommenden Jahre. Erst wenn die Iraker der Welt zeigen können, dass sie eine durchsetzungsfähige Regierung in Bagdad haben, die unabhängig entscheiden kann, werden die Investitionen kommen und danach die Jobs."

Die künftige Regierung wird viel Kraft brauchen, um sich innenpolitisch und in der Region zu behaupten, sagt Ahmed Sabri, der Journalist:

"Die USA haben den Irak entscheidend geschwächt. Im Endeffekt haben sie ihn auf diese Weise dem großen Nachbarn Iran auf einem goldenen Tablett serviert. Was nun geschieht, haben die Amerikaner nicht mehr in der Hand."
Eine verschleierte Frau fährt in einem Eselskarren in Nadschaf an einem Wahlplakat des Kandidaten Qais al-Amari vorbei.
Eine verschleierte Frau fährt in einem Eselskarren in Nadschaf an einem Wahlplakat des Kandidaten Qais al-Amari vorbei.© AP
Ein Helfer hängt Wahlplakate im Stadtteil Sadr-City in Bagdad auf.
Ein Helfer hängt Wahlplakate im Stadtteil Sadr-City in Bagdad auf.© AP
Ein Anhänger des ehemaligen irakischen Premierminister Ayad Allawi tanzt auf einer Wahlkampfveranstaltung in Bagdad.
Ein Anhänger des ehemaligen irakischen Premierminister Ayad Allawi tanzt auf einer Wahlkampfveranstaltung in Bagdad.© AP