Der Tanz um das ungeschriebene Buch

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 23.06.2006
Mit dem Namen Wolfgang Koeppen verbindet man den gelebten Mythos des nicht mehr geschriebenen Romans. Koeppen, das ist ein merkwürdiges Literaturspektakel, wo inmitten einer Bühne voller Geschäftigkeit ein verschmitzter, alter Mann still an einer noch stilleren Schreibmaschine sitzt. Muss als Opfer von Großkritiker-Projektionen und Großverleger-Erwartungen bedauert werden?
Oder war er eher das allseits geförderte Schlitzohr im Literaturbetrieb, ein Schriftsteller, der mit dem Roman, den er dreißig Jahre lang nicht schrieb, mehr Aufmerksamkeit erregte als mit allen, die er hätte schreiben können? Der mit Bedacht von Zeit zu Zeit immer nur gerade soviel kleine Prosa und Krümel vom Roman publizierte, dass sein bedeutungsvolles Schweigen vernehmbar blieb?

"Ein neuer Roman von Wolfgang Koeppen ist anzukündigen" – so bewirbt der Suhrkamp Verlag einen umfangreichen Briefband, der jetzt zum 100. Geburtstag des Autors erschienen ist. Es ist das alte Koeppenspiel, noch einmal; zum allerletzten Mal. Denn natürlich handelt es sich nicht um einen Roman, sondern um die allerdings an Dramatik und Hinauszögerungseffekten reiche Korrespondenz zwischen dem Autor und seinem Verleger Siegfried Unseld.
Koeppen, 1906 in Greifswald geboren, war bereits ein Autor von Mitte fünfzig, als er sich 1960 nach einem neuen Verlag umsah. Er hatte sich in den Fünfziger Jahren Rang und Namen erschrieben, und so war es kaum erstaunlich, dass der ambitionierte junge Suhrkamp-Chef sich diesen Autor sichern wollte. Er erhoffte sich von ihm den großen zeitkritischen Roman und geizte nicht mit Vorschüssen. Aber bereits in einem Brief vom 3. Januar 1961, gerade zwei Tage nach Vertragsabschluss, beschwert sich Koeppen erstmals über das Drängen Unselds. Es ist eine prophetische Epistel:

"Lieber Herr Doktor Unseld, … Ihre Worte haben mich verwundert, befremdet, stutzig gemacht und gekränkt ... Sie betonen so schwer und vorwurfsvoll des Verlages 'Vorleistungen ideeller und materieller Natur', dass man meinen könnte, Sie hätten mich zehn Jahre lang erhalten und nun beinahe die Hoffnung aufgegeben, auch nur eine Manuskriptseite von mir zu empfangen. Dabei schreiben Sie eine Zeile vorher, dass Sie gerade die erste Rate unseres Vertrages anweisen wollen. Überdies ermahnen Sie mich wie ein strenger Vater den faulen Sohn, das Vertrauen des Verlages nicht zu enttäuschen. Ist dieser Zeigefinger nicht zu früh erhoben? Gewiss, mancher Schüler enttäuscht, aber er beabsichtigt es doch wohl nicht von Anfang an, und man sollte es ihm nicht schon beim Eintritt in die Klasse vorhalten. Ich fühle mich nicht befeuert und gestärkt, sondern vor den Kopf gestossen."

Das Wohlwollen des Literaturbetriebs gegenüber Koeppen ist grenzenlos, es mangelt nicht an Ermutigungen in Form vieler bedeutender Literaturpreise. Aber gerade diese "entsetzlichen Erwartungen", die er nur mit einem großen, auch umfangstarken Roman erfüllen könnte, lassen den Autor verzweifeln. Er reaktiviert alte Pläne, um bei Unseld den Eindruck zu erwecken, es seien große Werke im besten Entstehen begriffen: "Die Scherzhaften", "Bismarck oder all unsere Tränen", "Tasso der die Disproportion", "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs" – Titel, die in ihrem unzeitgemäßen Klang schon ein wenig das Aroma von Totgeburten haben.

Manchmal stellt er für eine Anthologie einen kleinen Text zur Verfügung, behauptet, es handele sich um etwas Altes, Liegengebliebenes, dabei hat er ihn gerade erst – sozusagen gezielte Fragmenteproduktion – auf eine Anfrage Unselds hin verfasst. So bewahrt er sich die Gunst des Verlegers und vor allem die finanziellen Zuwendungen, auf die er zeitlebens angewiesen bleibt. Die Briefe an Unseld sind nicht selten Reporte bitterer Not. Sobald etwas Geld da ist, entwickelt sich Koeppen allerdings zum Liebhaber einer gehobenen Lebensweise.

Seine höchste Kunst wendet der Briefschreiber auf, wenn es Unseld die Beeinträchtigungen der Arbeit zu schildern gilt. Zu den zuverlässigen Störungen gehört die zwanzig Jahre jüngere Ehefrau Marion Koeppen – suizidgefährdet, schwer alkohol- und medikamentensüchtig. Es ist eine strindbergsche Ehehölle, so jedenfalls schildert es Koeppen. Unselds Antworten auf die Beschreibungen des Desasters nehmen sich immer wieder ähnlich aus.

"Lieber Wolfgang, welch ein Brief! Und: Wie kannst du schreiben! Jedes Wort steht da wie ein Kristall, durchsichtig, klar, scharf, hart und schön. Das war der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, das ist er, und bei dieser Kraft könnte er es auch weiterhin sein."

Es mag sich als Reaktion auf einen verzweifelten Brief merkwürdig ausnehmen, wenn nur die schöne Form gelobt wird. Aber es scheint, Unseld hat genau verstanden, auf was Koeppens Brief angelegt war: Den Glauben an den Schriftsteller zu erhalten. Koeppen habe Schwierigkeiten beim Schreiben von Literatur, meint Unseld, weil er diese Literatur in einer Nähe lebe, die dem Schreiben keinen Atem lasse. Angesichts dieses Befundes konnte Koeppen erst einmal aufatmen.
Der Tanz um das ungeschriebene Buch verläuft wie nach einer Choreografie. Auf der einen Seite Koeppens potemkinsche Romanfassadenwirtschaft. Auf der anderen Unselds Durchschauen derselben, obwohl er gegenüber dem Autor offiziell den guten Glauben bewahrt. Es ist, als hätten beide gegen besseres Wissen ein geheimes Stillhalteabkommen geschlossen, nach dem ein großer Koeppen-Roman mit jeder Saison zu gewärtigen sei. In seiner privaten Dokumentation ist Unseld weniger behutsam, vielmehr hält er seine Eindrücke von einer Begegnung mit Koeppen mit einem Anflug schwarzen Humors fest: "Eine 1% Chance, dass wir sein Roman-Ms. Ende August bekommen."

Eine Kunst hat der so bescheiden auftretende Koeppen seit den dreißiger Jahren beherrscht wie kein anderer: Unterstützer zu finden, sich unterzustellen. Der "schlaue Koeppen", so nennt ihn Unseld einmal in seinen Aufzeichnungen. Soll man ihn nun als listigen Arrangeur oder gar als Spinne im Netz der Literatursubvention verstehen? Auch dies wäre nur die halbe Wahrheit. Denn die Verzweiflung Koeppens erscheint nicht gespielt. Nicht nur Unseld, auch sich selbst hat er mit seinen lebensnotwenigen Schreibhoffnungen etwas vorgemacht, und am Ende bekam diese Selbstverblendung etwas Tragisches. Die Schreibillusion, mit der sich noch der todkranke, zum Pflegefall gewordene Koeppen gegen das Sterben wehrt – "entsetzlich" findet Siegfried Unseld dieses Schauspiel im Jahr 1994.


Alfred Estermann, Wolfgang Schopf (Hgg.): "Ich bitte um ein Wort ..." Der Briefwechsel Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 584 Seiten