Der Streit um Troja

Von Arno Orzessek · 03.01.2008
Homer sei ein griechischer Schreiber im Dienst assyrischer Machthaber gewesen und habe keineswegs, wie bisher angenommen, in Ionien, im Norden der kleinasiatischen Westküste gelebt. Dies behauptet der Literaturwissenschaftler Raoul Schrott und bringt mit der scheinbar sensationellen Erkenntnis die Altertumswissenschaft zum Brodeln.
Achill heißt die rasante Hauptfigur in Homers Troja-Epos Ilias. Wenn ein Schriftsteller wie Philip Roth in "Der menschliche Makel" auf den großen Zornigen Bezug nimmt, dann klingt das so:

"Achilleus nach dem Adrenalinstoß: der explosivste wilde Mann, den je ein Autor das Vergnügen hatte zu schildern, die empfindlichste Tötungsmaschine in der Geschichte der Kriegsführung."

Als Künstler hat Philip Roth jedes Recht, einer seiner Figuren derart plakative Superlative unterzujubeln, ohne sie mit dem Stand der Altphilologie abzugleichen. Auch Christa Wolf bezeichnet in "Kassandra" Achill nur als "das Vieh", was gelinde gesagt unterkomplex, aber dafür sehr wirkungsvoll ist.

Der preisgekrönte Dichter und vergleichende Literaturwissenschaftler Raoul Schrott hat jedoch auf jede Abschwächung seiner Homer-Thesen durch literarische Verfremdung verzichtet. Schrott behauptete in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)" eins zu eins, Homer sei ein griechischer Schreiber im Dienst assyrischer Machthaber gewesen und habe keineswegs, wie bisher angenommen, in Ionien, im Norden der kleinasiatischen Westküste gelebt. Im Deutschlandradio sagte Schrott:

"Ich behaupte etwas ganz Normales, wie jede Geschichte, die erzählt wird, in einem Heute, vor einem Publikum, dass der alte Trojastoff, von dem man zeigen kann, dass er nach Zypern die Wirren der Zeit nach 1200 überdauert hat, dass der von Homer dann aufgegriffen wurde, mit einem Zeithorizont versehen wurde, mit bestimmten Personen und Anspielungen auf zeitgenössische Geschehnisse auch, die er in den alten Stoff hineinprojiziert, wie jeder Dichter. Troja war zu Homers Zeiten, da war fast nichts mehr zu sehen, und das, was Homer so von Troja beschreibt und auch all seine Details und Palastanlagen, Mauern, wie alles ringsherum aussieht, das muss er, wie jeder Dichter auch, natürlich von etwas übernommen haben, was ihm vor Augen steht, um es so detailreich beschreiben zu können; und das passt eben in die kilikische Landschaft, ist aber nur ein Indiz von ganz, ganz, ganz vielen, das auf dieses Kilikien als das damalige multikulturelle Umfeld Homers verweist."
Es ist klar, dass Schrott auf die höchste Geheimnislüfter-Ehre aus ist. Er will einen Coupe in etwa von der Größenordnung, wie ihn Heinrich Schliemann durch die Ausgrabung Trojas verwirklicht hat; und so wie Schliemann einst dort grub, wo englische Reisende seit längerem das sagenhafte Troja vermutet hatten, so hat sich Schrott von dem Innsbrucker Altphilologen Robert Rollinger nach Kilikien weisen lassen - kleine Nachhilfen brauchen wissenschaftliche Wunder dann doch.

Eigentlich also ein schönes Ereignis: Ein genialischer Dichter und sinnenscharfer Komparatist wirft im Handstreich zweihundert Jahre Forschung über den Haufen. "Es fällt schwer, seinen Ausführungen den Glauben zu verweigern", gestand noch am Heiligen Abend, fasziniert von Schrotts kleinteiliger Argumentation, Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung.

Der Gegenschlag der Fachleute kam im neuen Jahr.

""Ich habe ja schon mehrfach gesagt, in den letzten Tagen, weil ich auch in vielen Institutionen gefragt werde, dass ich das entweder, charmant gesagt, als eine Plauderei bezeichnen kann oder, wenn man es weniger freundlich sagt, als eine ganz irrwitzige Fantasterei","

höhnte der emeritierte Basler Gräzist Joachim Latacz in diesem Sender, und seine aktuellen Ausführungen in der "Süddeutschen Zeitung" sind nicht frei von mühsam unterdrücktem achillschem Zorn.

Latacz wirft Schrott vor, in Troja selbst nur drei Tage verbracht zu haben, trotzdem aber auf zahlreiche "Ungereimtheiten" der Homer-Forschung gestoßen zu sein. Von Robert Rollinger nach Kilikien gewiesen, habe Schrott dort offenbar sofort "den Stein der Weisen gefunden" und erlaube sich, ohne vertiefte Kenntnisse in Griechisch, Latein, Alte Geschichte, Archäologie und so weiter, ohne das gängige Werkzeug der Altertumswissenschaftler also, die Homer-Forschung Mores zu lehren. Dass Schrott den neuen kilikischen Homer als "Eunuch" skizziert, "der seinen Triebrest durch Essen, Wissensdurst und den Voyeurismus seiner Kampfbeschreibungen sublimiert", das findet Latacz nur noch lächerlich und hält Schrott dessen eigenes, auf Homer gemünztes Diktum vor: "Als Dichter weiß man Bescheid, wie man zu dem Material für seinen Text kommt und was man damit dann alles anstellen kann."

Kurz gesagt, Latacz als Wissenschaftler greift in seiner Polemik Raoul Schrott als Künstler an, der leider vergessen hat, seine überbordende Erkenntniseuphorie in die richtige, die literarische Form zu gießen.

Eben darauf zielt auch die Altphilologin und Archäologin Barbara Patzek ab, die Schrotts vermeintlich wissenschaftliche Einlassung als "historische Phantasie" charakterisiert, die aus "der Zwischensphäre zwischen historischem Roman und historischer Forschung" erwachse. Patzek unterstellt Schrott, mit riskanten Indizienschlüssen Troja und die Troja-Sage zu bloßen Sedimenten der Ilias herabzuwürdigen, um den eigentlichen Gehalt des Epos in den Anspielungen auf die Geschichte Kilikiens suchen zu können.

"Genug, möchte man Schrott hier zurufen!", schreibt Patzek in der "FAZ".

Doch es wird weiter hoch hergehen, soviel scheint garantiert. Schrotts ohnehin dichter Aufsatz war nur das Best-Off eines im Frühjahr erscheinenden Buches und natürlich glänzende Werbung dafür. Wenn Fachleute wie Latacz einsteigen, ist eine komplette Zeitungsseite die kleinste Einheit jeglicher Argumentation. Sollte der ehemals ionische Homer tatsächlich in Kilikien gelebt haben und multikulturellen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein, wird man die Ilias neu interpretieren. Selbst der Verdacht dürfte die Orient-Okzident-Diskussion stark beleben.

Muss man Raoul Schrott dafür dankbar sein? Oder wird man die "FAZ" dafür schelten, dem größten Bluff seit den Hitler-Tagebüchern des Herrn Kujau aufgesessen zu sein, wie es im Internet bereits geschieht? Es sei dahingestellt. Dass Barbara Patzek den Dichter Schrott am Ende belobigt, weil dessen Studien ermöglichen, Homers "einstmals von Voltaire als vollkommen antiquiert verspottete Bilderwelt" neu zu verstehen, scheint uns jedoch weit her geholt. Der Achill der Ilias hat seine Faszination nie verloren - siehe Philip Roth - und seinen Rang immer äußerst schneidig selbst verteidigt.