Der Staat als väterlicher Beschützer

Rezensiert von Wolfgang Sofsky · 29.06.2007
Terror, Klimakatastrophe, Drogen, Gentechnik - die Menschheit sieht sich von vielen Gefahren bedroht, und der Staat versucht seine Bürger zu beschützen. Doch eine Demokratie sollte nicht kollektiver Panik folgen, sondern eine schützende Rolle einnehmen, die die Freiheit nicht erstickt, meint Cass Sunstein in seinem Buch "Gesetze der Angst".
In Zeiten der Angst wittern Menschen überall Gefahren. Hierzulande fürchten sich viele vor der Erwärmung des Klimas, vor der Globalisierung, vor Tabak, Alkohol oder gentechnisch verändertem Saatgut. Die einen werden nervös, wenn die Rede auf die Armut im Alter kommt oder auf die Zuwanderung Fremder. Andere sind besorgt über Terroranschläge oder die Raserei auf der Autobahn. Dritte machen sich bange Gedanken über die Nebeneffekte von Medikamenten, über explodierende Atommeiler oder gierige Hedgefonds. In einer derart unübersichtlichen Lage kommt eine präzis argumentierende Studie gerade recht, die gegen die Torheiten kollektiver Panik nach rationalen Kriterien einer Angstpolitik sucht.

"Recht und Politik sollten die Fehleinschätzungen der Bürger nicht widerspiegeln. Demokratien dürfen den Ängsten ihrer Bürgerschaft nicht mechanisch folgen, und genauso wenig dürfen sie einfach deren Sorglosigkeit übernehmen."

Cass Sunstein, Professor für Politik und Jurisprudenz in Chicago, misstraut dem populären Prinzip der Vorsorge, das auf ein risikofreies Leben spekuliert und schon bei der leisesten Vermutung einer möglichen Gefahr einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen erlässt. Vorsicht allein ist ein schlechter Ratgeber für politische Entscheidungen. Sie fordert Interventionen, auch wenn die Erkenntnisse dürftig und die Kosten hoch sind.

"In seinen starken Versionen ist das Vorsorgeprinzip inkohärent. Es beansprucht, Orientierung zu geben, scheitert aber daran, weil es genau diejenigen Schritte verurteilt, die es fordert. Die Regulierungsmaßnahmen bringen selbst neue Risiken hervor. Das Vorsorgeprinzip führt uns nicht in die falsche Richtung, es führt in gar keine Richtung. Wenn wir gegen alle Risiken – wie unwahrscheinlich sie auch sein mögen – kostspielige Maßnahmen ergreifen, werden wir schnell verarmen."

Das präventive Verbot einer lebenserhaltenden Arznei mit einigen, nicht unerheblichen Nebenwirkungen steigert das Risiko für die Schwerkranken. Wer seinerzeit Kühlschränke oder Antibiotika untersagt hätte, der hätte heute das Leben unzähliger Menschen auf dem Gewissen. Manchmal kann Vorsorge mehr Schaden anrichten als verhindern. Und dennoch halten viele Regierungen und Untertanen strikt daran fest. Denn die Vorsorge beruht auf gängigen Denkfehlern. Schon ein einziges augenfälliges Beispiel verführt dazu, sich unermessliche Sorgen zu machen.

"Weil die Medien ausführlich über extrem seltene Verbrechen berichten, haben Menschen Angst vor Risiken, denen sie sehr wahrscheinlich nie ausgesetzt werden."

Konzentriert man sich auf den schlimmstmöglichen Fall, wird dessen minimale Wahrscheinlichkeit regelmäßig übersehen. Starke Gefühle überdecken den Sinn für realistische Prognosen und münden geradewegs in Alarmismus. Und soziale Kommunikation gehorcht mitnichten dem Realitätsprinzip, sondern entfacht einen Flächenbrand der Angst.

"Wenn verängstigte Menschen vor allem mit anderen verängstigten Menschen sprechen und einander zuhören, wird sich ihre Angst ganz unabhängig von der Realität vergrößern. Und wenn furchtlose Menschen miteinander über den ungerechtfertigten Eifer derjenigen herziehen, die sich über die Erderwärmung, Asbest oder Berufskrankheiten Sorgen machen, werden sie noch weniger Angst empfinden, selbst wenn die entsprechende Gefahr real ist."

Diskurs und Kommunikation schützen vor Torheit nicht. Im Gegenteil: Gemeinsam fürchten Menschen sich mehr als allein. Doch ist dieser Effekt keineswegs nur der Vorliebe für kleinmütige Argumente, mediale Effekthascherei oder unbelehrbare Haltungen geschuldet. Sunstein überschätzt die kognitive Seite der Angst. Von der physischen Dramatik des Affekts, der Schwerkraft ängstlicher Stimmungen, der Eskalation durch Gerüchte und andere Massenprozesse ist in seiner Studie keine Rede. Völlig unterschlagen wird, wie Ängste sich mit anderen Gefühlen vermischen oder in Wut, Verfolgung und Hetzjagden auf Sündenböcke umschlagen. In Sunsteins gesitteter politischer Psychologie bleibt Angst ein blasses Gefühl. Sie kennt zwar furchtsame Gedanken, aber keine kollektive Dramatik.

Diese Verharmlosung mag damit zusammenhängen, dass es dem Autor zuletzt um den Entwurf einer rationalen Angstpolitik geht. Nicht der Innenperspektive panischer Gruppen, Kulturen und Nationen gilt seine Aufmerksamkeit, sondern dem Angstmanagement staatlicher Behörden. Statt wilder Vorsorge empfiehlt er eine Verrechnung von Kosten und Nutzen, den Einsatz von Sicherheitsmargen und ein restriktives Antikatastrophenprinzip. Es sieht offensive Maßnahmen allein für Situationen vor, in denen eine Gefahr extrem und ungewiss ist und die Kosten keine Ressourcen verbrauchen, die für drängendere Probleme benötigt werden.

"Es ist sinnlos, eine Katastrophe mit Hilfe von Maßnahmen abzuwenden, die selbst katastrophale Risiken nach sich ziehen. Regulierungsbehörden sollten möglichst kostengünstige Mittel wählen, um ihre Zwecke zu erreichen. Extreme Belastungen für diejenigen Menschen sollten verringert werden, die sie am schwersten bewältigen können."

Regierungen müssen überzogenen Ängsten ebenso widerstehen wie kollektivem Leichtsinn. Sie sollen den Untertanen das richtige Fürchten lehren und sie vor falschen Ängsten befreien. Der Staat als Manager gesellschaftlicher Emotionen, diese fürsorgliche Strategie nennt Sunstein "libertären Paternalismus". Denn bei aller Wohlfahrt soll kein Untertan seiner Entscheidungsfreiheit beraubt werden.

"Für private und öffentliche Institutionen ist der Versuch legitim, das Verhalten von Menschen selbst dann zu beeinflussen, wenn es keine Auswirkungen auf Dritte hat. Manchmal treffen Individuen Entscheidungen, die hinsichtlich ihres eigenen Wohlergehens nicht optimal sind – Entscheidungen, die sie ändern würden, wenn sie über alle relevanten Informationen, unbeschränkte kognitive Fähigkeiten und perfekte Selbstbeherrschung verfügten. Es geht darum, Strategien zu entwickeln, die Menschen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen beeinflussen und zugleich Entscheidungsfreiheit zulassen."

Dies ist die alte Rechtfertigung verstaatlichter Fürsorge, der Sunstein lediglich das freundliche Etikett der Freiheit anklebt. Weil der Untertan häufig unklare Präferenzen hat, sich seiner "eigentlichen" Interessen nicht bewusst ist, immerzu Fehler in seinem Leben macht und ohnehin fortlaufend fremden Einflüssen unterliegt, ist es die Aufgabe der Obrigkeit, für die Menschen zu sorgen. Ihre auferlegten Standardregeln sind nur mit erheblichem Aufwand aufzukündigen. Seit je spekuliert der Wohlfahrtsstaat auf den Konformismus der schweigenden Bequemlichkeit. Aber aus der Tatsache, dass Entscheidungen immer unter vorgegebenen Bedingungen stattfinden, folgt weder, dass auferlegte Vorsorge unvermeidlich noch dass eine selbständige Lebensführung unmöglich sei. Wieso ausgerechnet staatliche Planer und Experten wissen sollen, was für den Bürger das Beste sei, bleibt des Autors wohl gehütetes Geheimnis. Nicht umsonst ist von Macht und Herrschaft in diesem Buch nirgendwo die Rede. In Sunsteins prohibitiver Staatsordnung ist zuletzt kein Platz für jene unzuverlässigen Subjekte, die zu viel trinken und zu viel rauchen, riskante Wetten und schnelle Autos lieben, auf jede öffentliche Altersvorsorge pfeifen, sich weigern, in marode Versicherungen einzuzahlen, und jeder Obrigkeit das Recht absprechen, sich als Sachwalter der Vernunft und des Gemeinwohls aufzuspielen. So klar und deutlich Sunstein den staatlichen Übergriff auf ausgewählte Teilgruppen zurückweist und die Ideologie der Vorsorge in ihre Schranken weist, so unhaltbar ist seine Rechtfertigung des Paternalismus. Staatliche Gesetze gegen die Angst können dem gemeinen Untertanen wahrlich das Fürchten lehren.

Cass R. Sunstein: Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2007