Der schwarze Schlitz im Wahlplakat

Von Rainer Zerbst · 25.09.2009
Regisseur Volker Lösch ist berühmt für seine "Krawall"-Inszenierungen. Kritiker sprechen von "Revolutions-Show", von plumpem Protest-Theater. Für das Staatstheater Stuttgart hat sich Volker Lösch nun Maxim Gorkis "Nachtasyl" vorgeknöpft.
Der Einfall, in einer Zeit, in der Arbeitslosenzahlen und Hartz-IV-Problematik sich drastisch verschlimmern, das Drama zu wählen, in dem eine Schar von der Gesellschaft Ausgegrenzter ohne Aussicht auf Besserung dargestellt werden, ist brillant. Auch der Verzicht darauf, Typen der russischen Unterschicht um 1900 von Schauspielern von heute spielen zu lassen, und stattdessen nach Pendants in unserer Gesellschaft zu suchen, ist politisch klug - und die zahlreichen Interviews mit von der Wirtschaftskrise Betroffenen in Stuttgart in das neue Stück einfließen zu lassen, funktioniert.

Freilich: Gorkis Text spielt an diesem Abend eine vernachlässigbare Rolle, weshalb es fragwürdig ist, das Stück "von Gorki" zu titulieren. Aber wenn die Schicksale der in den Interviews Befragten zitiert werden, bekommt der Abend einen Hauch von Authentizität.

Auch das Bühnenbild ist brillant: Ein Wahlplakat mit dem Gesicht von Angela Merkel und der Aufschrift: Der Aufschwung kommt, und dort, wo Merkels Augen sind, ein großer schwarzer Schlitz, als sei sie von Blindheit geschlagen, und aus diesem Schlitz fallen die Schauspieler auf die Bühne beziehungsweise versuchen, wieder den Aufstieg - eine szenische Symbolik, die zum Thema passt.

Aber wenn Lösch über die Zitate der Befragten hinaus versucht, Figuren auf die Bühne zu stellen, dann überzieht er alles mit einer Banalität und Klischeehaftigkeit, die jede Telenovela subtil differenziert erscheinen lässt: Die Studentin liebäugelt mit Revolution, die Unternehmergattin ist ein kaltes, geldhungriges Biest, der Sozialarbeiter kann allmählich Amoklauf und den Griff zu den Waffen verstehen.

Damit nicht genug: Am Ende fragen die Akteure im Publikum Anwesende nach ihrer Meinung: Ist das System noch zu retten - ja oder nein? Ist der Kapitalismus am Ende - ja oder nein? Und diese theatralische Peinlichkeit wird noch überboten durch den Hinweis am Ende, nach der Wahl würden die Politiker mit der Wahrheit herausrücken. Eulen nach Athen tragen sollte nicht Aufgabe des Staatstheaters sein, und so manche Agitpropaktion der 70er-Jahre hatte mehr theatralische Phantasie als dieser Abend anno 2009.