Der Schriftsteller Ernest Hemingway

Pionier des amerikanischen Antihelden

Hemingway sitzt mit einem Drink auf der Terrasse und lächelt in die Kamera.
Hemingway um 1940 auf der Terrasse seines Landhauses auf Kuba, der Finca Vigia. © akg-images
Von Tom Noga · 26.06.2021
Ernest Hemingway war mehr als ein Schriftsteller. Heute würde man sagen: Er war ein Popstar. Er verstand das Spiel mit den Medien und wusste sich zu inszenieren – als Macho, Draufgänger, Weltenbummler und Kosmopolit.
Ernest Hemingway sprach Französisch, Italienisch und Spanisch, er hat in den italienischen Alpen gelebt, in Toronto, Kanada, Paris, Key West und in Havanna, Kubas Hauptstadt. Er hat an Safaris in Kenia und Tansania teilgenommen, als Sanitäter im Ersten Weltkrieg gedient und als Reporter aus dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg berichtet und dabei mehr als einmal zu den Waffen gegriffen – so lautet jedenfalls die Legende.
Er war passionierter Boxer, Großwildjäger und Speerfischer. Als "America’s Number 1 He-Man" hievte ihn ein Männerblatt in den Fünfzigerjahren auf den Titel.

Leiden am Image

Hemingway hat dieses Image befeuert und gleichzeitig darunter gelitten. "Wie können wir wir selber sein, wenn du der da in diesen Kritiken bist", fragt Catherine Bourne ihren Mann David in Hemingways posthum erschienenen Roman "Der Garten Eden".
Dieser David Bourne trägt stark autobiografische Züge Hemingways, wie die meisten Protagonisten Hemingways. Seine neuen Helden sind gebrochen, entwurzelt, desillusioniert. Er ist ein Pionier, der die große amerikanische Erzählung von der Eroberung unbekannten Terrains fortschreibt, in einem neuen Stil: direkt, emotionslos und chirurgisch präzise.
Familienportrait der Hemingways – alle drei Kinder tragen weiße Kleider.
Ernest Hemingway zwischen Mutter, Vater und zwei Schwestern.© akg-images
Am 2. Juli 1961 setzte Hemingway seinem Leben ein Ende – mit einer Revolverkugel, wie sein Vater 33 Jahre zuvor. Einer wie Ernest Hemingway fällt in einer Schlacht, er kommt bei einem tollkühnen Abenteuer um. Vielleicht setzt er sich eine Kugel, irgendwo in der Ferne, an einem mythischen Ort, aber doch nicht in Ketchum, Idaho.

Zwischen Klassik und Moderne

Der Hemingway-Biograf Wolfgang Stock charakterisiert ihn als "das Gegenteil des Dichters im Elfenbeinturm. Er konnte messerscharf beobachten und das wie ein Chirurg zu Papier bringen. Hemingway zeichnet sich durch einen sehr einfachen Duktus aus: Subjekt, Prädikat, Objekt. Von heute aus betrachtet, ist er ein moderner Klassiker. In der damaligen Zeit war er ein Revolutionär."
Der Literaturwissenschaftler und Hemingway-Experte Carl Eby beschreibt seinen Stil so:
"Die Zeitungen der Jahre 1924 bis 1926 waren voller Kommentare über Hemingways neuen Stil. Die Leute waren begeistert von seiner Klarheit und seiner Direktheit. Sein Stil hatte sie sofort gepackt. Natürlich hat Hemingway diesen Stil nicht aus der Luft gegriffen. Wenn man genau hinsieht, findet man Elemente von amerikanischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts wie Stephen Crane und Mark Twain, von französischen Romantikern wie Maupassant und Flaubert und von russischen Klassikern wie Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi. Von ihnen hat sich Hemingway einiges abgeguckt, aber auch von Modernisten wie James Joyce und Sherwood Anderson. Ihren Stil hat er studiert, analysiert und dann genommen, was ihm gefiel und es, wenn man so will, in einen Mixer gesteckt. Herausgekommen ist sein eigener, unverwechselbarer Stil"

Ein amerikanischer Antiheld

Im Jahr 1929 sind die Wilden Zwanziger schon Geschichte. Eine Epoche, die geprägt ist von Nachkriegsverbitterung und Weltvergessenheit, aber auch von wirtschaftlichen Krisen, von sozialen Unruhen, von politischer Instabilität. Am 25. Oktober, dem Schwarzen Freitag, kollabiert die Börse in New York. Mit dem Crash beginnt die Weltwirtschaftskrise, die bis weit in die Dreißigerjahre anhalten sollte.
In dieser Phase des Umbruchs erscheint "In einem anderen Land" und etabliert einen neuen Helden: gebrochen, entwurzelt, desillusioniert. Er ist kein typischer amerikanischer Held wie der Cowboy oder der Detektiv, die das Chaos zumindest in der Literatur und im Film ordnen, die Gerechtigkeit herstellen und die Gesellschaft wieder versöhnen.
Er ist eher ein Antiheld, aber ein amerikanischer: einsam, aufrichtig, leidensfähig.

Hemingway – die Legende

Der Anglist Carl Eby sieht in Hemingway eine Legende. Diese "entsprach nicht komplett dem, wer er war. Aber sie entsprach der einen Hälfte seiner Persönlichkeit: seinem Machismo. Für Hemingway selbst war das von Anfang an zwiespältig. Ende der Zwanziger hat er seinen Verleger gebeten, ihm keine Presseartikel mehr zu schicken. Er schrieb: 'Ich kann das nicht lesen, das spukt mir im Kopf herum und verändert meine Vorstellung von mir selbst.'"
Das Ernest Hemingway Haus in Havana, Kuba. An der Wand hängt ein Leopard, den er selbst erschossen hat.
Das Ernest-Hemingway-Haus in Havana, Kuba. Den Leoparden an der Wand hat er selbst geschossen.© akg-images / SNA
Gleichzeitig befeuert er dieses Image: Er schreibt Kurzgeschichten über die Kriegserlebnisse seines Alter Egos Nick Adams und dessen Rückkehr in ein Amerika, das er nicht mehr versteht. Er posiert mit mehr als mannsgroßen Speerfischen, die er in der Karibik geangelt hat, mit Antilopen und Löwen, den Trophäen seiner Safaris in Afrika.
In der Weltwirtschaftskrise haben Millionen Kleinanleger ihre Ersparnisse verloren und Millionen Farmer ihre Existenzgrundlage. Für dieses verunsicherte Amerika ist Ernest Hemingway die ideale Projektionsfläche: ein Mann der Tat, polyglott, viril und abenteuerlustig. Ein Pionier, der die große amerikanische Erzählung von der Eroberung unbekannten Terrains fortschreibt.

Ein Mythos zerfällt

"In einem anderen Land" wird verfilmt, als erstes von elf Werken Hemingways. In den Dreißigerjahren ist Ernest Hemingway auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Aber das Schreiben fällt ihm immer schwerer. Seine Angst, nicht mehr schreiben zu können, wächst.
Gemeinsam mit Martha Gellhorn, die ein Jahr später seine dritte Ehefrau wird, zieht Hemingway im April 1939 nach Havanna, erst ins Hotel Ambos Mundos, dann in die Finca La Vigía.
Hemingway, mit weißer Cappy und Sonnebrille, redet mit Castro.
1959 traf Ernest Hemingway Fidel Castro-Ruz in Havanna.© akg images
In Havanna beendet er "Wem die Stunde schlägt". Das Buch erscheint im Herbst 1940 und wird binnen zweieinhalb Jahren mit einer verkauften Auflage von knapp einer Million der erfolgreichste amerikanische Roman seit der Südstaaten-Schmonzette "Vom Winde verweht". Das hat auch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, der ein Jahr zuvor mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen hat, und in den die USA im Dezember 1941 eintreten sollten.
Der Erfolg des Romans ruft Hollywood auf den Plan: Paramount, eines der großen Studios sichert sich die Filmrechte für 150.000 Dollar – damals eine Rekordsumme.
Hemingway in Cortina d’Ampezzo (Dolomiten): Mit seiner 4. Ehefrau Mary, geb. Welsh, an der Bar.
Hemingway in Cortina d’Ampezzo (Dolomiten): Mit seiner vierten Ehefrau Mary, geb. Welsh, an der Bar.© akg / Archivio Cameraphoto Epoch
Als Ernest Hemingway den Nobelpreis erhält, ist er 55 Jahre alt und ein körperliches Wrack: ein starker Trinker, übergewichtig, mit absurd hohem Blutdruck, chronisch depressiv, gezeichnet von zahlreichen Unfällen, die er auf seinen Abenteuerreisen erlitten hat – unter anderem auf einer Safari in Tansania, wo er bei zwei Flugzeugabstürzen nur knapp mit dem Leben davongekommen ist.

Hemingways literarisches Spätwerk

Nach "Wem die Stunde schlägt" Anfang der Vierzigerjahre hat er lange keinen Roman mehr veröffentlicht. Dann erschien "Über den Fluss und in die Wälder", eher eine zu lange geratene Kurzgeschichte voller ausschweifender Monologe - alles andere als ein großer Wurf.
Hemingway mit einem Thunfisch auf Bimini (Bahamas). Foto, 1935.
Hemingway mit einem Thunfisch auf Bimini (Bahamas), 1935.© akg-images
Dann kam im Jahr 1952 "Der alte Mann und das Meer", ein Roman über einen kubanischen Fischer namens Santiago und einen riesigen Marlin, einen Speerfisch, den er unter Aufbietung aller ihm verbliebenen Kräfte erlegt. Es ist Hemingways letzte Veröffentlichung bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1961.
Aber er schreibt weiter, jeden Tag – wie der Fischer Santiago jeden Tag aufs Neue "rausfährt".

Ein neues, postumes Bild von Hemingway

In den Achtzigern erscheint postum "Der Garten Eden". Das Buch handelt von sexuellen Experimenten, vom Spiel mit Geschlechterrollen und gipfelt in einer Dreiecksgeschichte.
"Als es rauskam, hat es alle überrascht: die Literaturkritiker, die Öffentlichkeit, die Fans. Alle hatten ein bestimmtes Bild von Hemingway. Er galt als typisches hypermaskulines Idol. Dieses Buch hat das Bild auf den Kopf gestellt", sagt Verna Kale über dieses Buch.

Spuren des Androgynen

Laut Carl Eby beginnt die Literaturwissenschaft nach Erscheinen des "Garten Eden" seine älteren Werke neu zu betrachten und stellt dabei fest, "dass er schon immer von Androgynie fasziniert war. In vielen seiner Romane gibt es Liebespaare, die wie Bruder und Schwester aussehen und sich die Haare identisch schneiden lassen. María in 'Wem die Stunde schlägt', hat kurze Haare, Brett Ashley in 'Fiesta' auch. Katherine aus 'In einem anderen Land' lässt sie sich am Ende des Romans kurz schneiden, was Frederic ziemlich anmacht. Sie reden darüber, dass sie gleich aussehen wollen und sich denselben Haarschnitt machen lassen. Die Leute haben das lange überlesen oder es nicht beachtet. Aber wenn man 'Der Garten Eden' kennt, kann man es nicht mehr ignorieren. Der ganze Roman handelt ja davon.
Diese Faszination geht zurück auf Hemingways Kindheit. Seine Mutter wollte eigentlich Zwillinge, die sie nicht bekommen hat. Aber sie hat ihn als Zwilling seiner Schwester erzogen, die anderthalb Jahre älter war. Mal hat sie die beiden als Mädchen angezogen, mal als Jungen, jeweils bis hin zum identischen Haarschnitt. Ich will nicht sagen, dass Kleidung den späteren Mann macht. Aber seine Mutter hat ihn manchmal als Mädchen gesehen. Mit dreieinhalb zum Beispiel hatte er Angst, dass der Weihnachtsmann nicht wüsste, ob er ein Junge oder ein Mädchen ist."
Seine Philosophie formuliert Frederic in dem Roman "In einem anderen Land": "Das Leben zerbricht jeden. Die Tapferen, die sich weigern zu zerbrechen, tötet es. Am Ende erwischt dich das Leben doch."

Weiterführende Literatur

Carl Eby: "Hemingway's Fetishism: Psychoanalysis and the Mirror of Manhood" (1998)
Verna Kale: "Ernest Hemingway" (2016)
Wolfgang Stock, Cabo Blanco: "Mit Ernest Hemingway in Peru" (2020)

Das vollständige Skript zu dieser Langen Nacht finden Sie hier.

Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021.

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