Der Schnoor in Bremen

Das hochgelegte Viertel mit den engen Gassen

10:08 Minuten
Das Schnoor-Viertel in der Bremer Altstadt zeichnet sich durch enge Gassen, kleine und bunte Häuser aus. Auf dem Bild stehen einige Menschen vor Schaufenstern.
Bunte, kleine Häuser in engen Gassen: 300 Menschen wohnen dort, aber es kommen jede Menge Touristen. © imago stock&people
Von Felicitas Boeselager · 03.08.2020
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Der Schnoor ist ein besonderes Viertel in Bremen. In den engen Gassen drängen sich die Menschen normalerweise dicht an dicht, es gibt viele kleine Läden. Einen für Karton-Modellbau etwa oder eine Bonbonmanufaktur. Touristen sind das Lebenselixier.
Per Handkarren werden hier Bier, Wasser, Saft und Softdrinks übers Kopfsteinpflaster in die Restaurants gefahren. "Aufgrund der engen, kleinen Gassen können die natürlich nicht alle mit dem Auto vor die Tür fahren, das heißt es geht hier zu 'wie im Mittelalter'", sagt Stadtführer Andreas Calic.
Er führt durch den Schnoor, eines der ältesten Stadtviertel Bremens. Es ist schon seit dem 8. Jahrhundert bewohnt. Damals hieß es noch Snoor. Woher genau dieser Namen kommt, ist noch nicht sicher geklärt. Der Legende nach kommt der Name daher, dass der Schnoor so aussieht, als seien die Häuser wie Perlen an einer Schnur aufgereiht.

Enge, kleine Gassen

"Das ist Unsinn", sagt Calic. "Denn vor dem Zweiten Weltkrieg sahen fast alle Stadtteile so aus. Eng und klein bebaut, enge, kleine Gässchen. Es gab keine Brandschutzmauern, keinen Abstand zwischen den Häusern, der vorgeschrieben war. Es hat wahrscheinlich mit zwei Dingen zu tun: Zum einen erinnert es an die Seilmacher, die Seile hergestellt haben – Schnüre halt. Es kann sein, dass die hier gelebt haben und dass das nach dem Produkt benannt ist." Außerdem ist die Hauptstraße des Viertels schnurgerade und vielleicht hat das dem Viertel seinen Namen gegeben.
Bevor die Führung durch diese Straße geht, macht Calic Halt bei St. Johann, der ältesten erhaltenen Klosterkirche in Bremen und der einzigen katholischen Kirche in der Innenstadt. An diesem Gotteshaus lässt sich viel über das kleine Viertel ablesen.
"Denn die Kirche, so wie wir sie jetzt sehen, sieht ja erst mal relativ normal aus", erklärt Calic. Tatsächlich sah sie mal anders aus, denn der Straßenlevel, auf dem wir hier stehen, der war noch Anfang des 19. Jahrhunderts zwei bis drei Meter tiefer."

Teile vom Fenster im Boden

Um sich vor Hochwasser zu schützen, wurde damals der Straßenlevel im Schnoor aufgeschüttet. Denn das Viertel liegt etwas tiefer als der Rest der bremischen Innenstadt und nahe der Weser. Gar nicht so leicht, zwei bis drei Meter aufzuschütten, wenn man dabei die bestehenden Gebäude nicht zu großen Teilen verschwinden lassen will.
Die Bremer Altstadt mit dem Schnoorviertel aus der Vogelperspektive. Das Schnoorviertel betsteht aus lauter kleinen Gebäuden.
Einst wurde das Bodenniveau im Schnoor angehoben, dennoch wirken die Häuser klein im Vergleich mit den Gebäuden um den alten Kern herum. © imago / alimdi
"Das führt zu seltsamen Effekten in der Kirche, nämlich, dass natürlich der Boden in der Kirche an derselben Stelle blieb, dann hat man den Boden in der Kirche erhöht, damit man jetzt wieder denselben Effekt hat. Man geht die Kirche hoch, um normal in die Kirche reinzugehen."
Das hat allerdings die Proportionen durcheinandergebracht, wer genau hinschaut, sieht das zum Beispiel an Fenstern, die zu nah am Boden liegen, oder gar ganz abgedeckt wurden. "Da sind auch schlichtweg Teile vom Fenster verschwunden, die ja auch zur Geschichte gehören. Das hat alles mit der besonderen Geologie hier zu tun."

Unterirdischer Gang mit unklarem Ziel

Wenige Schritte von der Kirche entfernt beginnt der Teil des Schnoors, für den er so berühmt ist: kleine, bunte Häuschen. Bei genauerem Hinsehen ist alles etwas krumm und schief. Enge Gassen, die an eine andere Zeit erinnern.
Und fast zu jedem Gebäude kennt Calic eine Geschichte. Zum Beispiel zu dem Schifferhaus, einem der ältesten Häuser im Viertel: ein schmales, weißes Häuschen, mit grünen Fensterläden und alten gelben Malereien auf der Fassade.
Im Mittelalter waren an dieser Stelle Badestuben, um die herum sich das Rotlichtmilieu angesiedelt hatte. "Und darauf beruht dann auch dieses Gerücht: Es heißt, es gibt einen kleinen Gang, der vom Dom unterirdisch zum Schifferhaus kommt, damit der Bischof damals unerkannt die Badestuben und die Dinge drum herum besuchen konnte."
Und tatsächlich gibt es im Keller des Schifferhauses einen verschütteten Gang im Boden. Allerdings weiß niemand, wo er hinführt. Und dass er bis in den Dom führt, ist jedenfalls sehr unwahrscheinlich, sagt Calic. "Hier sieht man jetzt diesen Hauptgang, für mittelalterliche Verhältnisse eine schnurgerade Straße."
Dicht an dicht stehen hier die schmalen, bunten Häuschen. Touristen schlängeln sich durch die Läden, vorbei an Galerien, Restaurants. Menschen sitzen in einer Eisdiele, Kinder drücken ihre Nase an Schaufenstern platt.

Ein Laden nur für Karton-Modellbau

Besonders bei einem Laden bleiben viele stehen. "Wir sind extra auf Hannover gekommen!", sagt die Mutter des elfjährigen Cem, der staunend in dem kleinen Verkaufsraum steht. Überall stehen, hängen und liegen hier Pappmodelle in allen Größen. Bunte Heißluftballons und Zeppeline hängen von der Decke, im Schaufenster steht Big Ben, in einer Zimmerecke ein Adler.
Und zwischen all den Modellen sitzt Monno Marten und berät seine Kunden. Marten und sein Vater betreiben das Atelier für Karton-Modellbau seit über 30 Jahren.
Im Laden von Monno Marten hängen Karton-Modellbauten an der Wand und an der Decke. Im Regal können Kunden die Bausätze durchstöbern. Der Blick durchs Fenster zeigt die engen Gassen im Schnoor.
Der Karton-Modellbauladen von Monno Marten und seinem Vater ist schon lange im Schnoor verankert. Marten schätzt die gute Nachbarschaft.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Marten ist im Schnoor aufgewachsen, seine Mutter hat ihren Laden direkt gegenüber – eine richtige Schnoorfamilie. "Ich möchte nicht woanders wohne. Es macht richtig Spaß, auch wenn man mal seinen Tag frei hat. Man kennt dann die Leute hier aus dem Café, wo man sich dann gerne mal hinsetzt. Und jetzt, wo die Leute auch wieder da sind und das Leben ... Ich muss nicht woanders hinfahren, ich mache hier auch gerne mal meinen freien Tag im Schnoor."

Wohnen in einen Tourismus-Hotspot

Marten ist einer von rund 300 Schnoor-Bewohnern. Ihn stören die vielen Touristen im Viertel nicht, sie gehören dazu, ziehen ihn zur Arbeit, sagt er. Und abends sei es immer schön ruhig.
Auch ein Auto vermisst er nicht, auch dann nicht, wenn er Einkäufe und Getränke in seine Wohnung schleppt. "Ein großes Problem ist es, wenn man ein großes Sofa kauft. Das wird angeliefert: Die Spediteure kriegen immer große Augen, wenn die das hier anliefern, weil die sehen, dass sie das mit ihrem Lkw nicht anliefern können."
Sein Laden mit den etwas altmodisch anmutenden Papiermodellen, passt wie gemalt in dieses Viertel. Pinguine, Bären, der Kölner Dom aus Papier – alles Dinge, die es in üblichen Kaufhäusern nicht mehr zu finden gibt.

Die Wüstestätte und das kleinste Haus

Wieder draußen geht es vorbei an Fensterstürzen, die in den Hauswänden kurz überm Boden zu sehen sind, eine weitere Erinnerung daran, dass das Viertel einmal viel tiefer lag, und komplette Fenster unter der Erde verschwunden sind.
"Hier haben wir das sogenannte kleinste Haus im Schnoor", erklärt Calic. "Es hat eine stolze Grundfläche von 42 Quadratmetern."
Wohlgemerkt auf drei Stockwerken. So klein, dass sich die Bewohner früher die Treppe sparen wollten und von außen mit einer Leiter in die verschiedenen Stockwerke geklettert sind. Deshalb ist oben im Dach neben einem Fenster auch eine Tür eingebaut.
Das kleine Haus steht in der sogenannten Wüstestätte. Der Platz im Herzen des Schnoors. Wüst, weil er einst einem Brand zum Opfer gefallen ist. Wer hinter der Wüstestätte links um die Ecke biegt, dem steigt bald ein süßer Geruch in die Nase.

Idee der Bonbonmanufaktur importiert

Auch hier bilden sich Menschentrauben vor den Schaufenstern und Kinderaugen werden groß. In der Bremer Bonbonmanufaktur sind die Regale voll mit buntem Süßkram in kleinen Weckgläsern und Lutschern in allen Größen und Farben.
Hinter einer Glaswand steht Johanna Marquardt und verarbeitet eine buntgestreifte, riesige Zuckermasse. Besucher können live beobachten, wie die Bonbons entstehen. So etwas habe er noch nie gesehen, sagt ein amerikanischer Tourist.
Johanna Marquardt steht an der Theke ihrer Bonbonmanufaktur im Schnoor in Bremen.
Johanna Marquardt stellt ihre Süßigkeiten direkt in der Bonbonmaufaktur im Schnoor her.© Deutschlandradio / Felicitas Boeselager
Als Marquardt ihm und seinem Sohn ein frisches Bonbon zum Probieren gibt, wird die Begeisterung noch größer. Es könnte gar nicht besser schmecken, freut sich der Junge.
Diese Erfahrung hat Johanna Marquardt in ihren Ferien auch in Schweden gemacht. Dort konnte sie sich mit ihren Geschwistern nicht sattsehen an den Zuckerbäckern. Woraufhin ihre Mutter auf die Idee gekommen ist, auch in Bremen einen solchen Laden zu eröffnen.
In Schweden habe die Mutter dann das Handwerk gelernt. "Und hat das dann hier weiter verfeinert, im Keller. Und wir mussten dann zuhause ganz viele Bonbons probieren", erinnert sich Tochter Marquardt.

Touristen werden gebraucht

Seit elf Jahren gibt es den Laden in Bremen, seit drei Jahren einen Ableger im Schnoor. Die Bonbonmanufaktur ist also keines der alteingesessen Geschäfte, passt aber mit dem großes Lutscher an der Fassade trotzdem wie gemalt in dieses Umfeld – und zieht weitere Touristen an.
Touristen, die das Viertel dringen braucht um zu überleben, besonders nachdem die Besucher während des Lockdowns ausgeblieben waren. Jetzt schlängeln sie sich – natürlich mit Abstand – wieder durch die engen Gassen des Viertels, die so verwinkelt sind, dass man an manchen Stellen gar nicht nebeneinander gehen kann.
Andreas Calic zeigt auf ein verglastes Loch in einer Hausfassade: "Hier sehen wir eine Öffnung, da wird zum Beispiel erzählt …" Calic beginnt eine der vielen Geschichten zu erzählen, die sich in diesem Viertel verbergen. Einige stimmen, die meisten sind Mythen oder auch nur Gerüchte. Aber auch sie gehören zum besonderen Charme des Schnoors.
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