Der Schmerz ist noch allgegenwärtig

Heidrun Wimmersberg und Michael Groth im Gespräch mit Stefan Feller · 20.11.2010
Die Zeit nach dem Dayton-Abkommen war in Bosnien-Herzegowina eine Nachkriegsperiode. Die drei Völker, die Bosnien und Herzegowina ausmachen, mussten einen Weg in einen einen gemeinsamen Staat finden und diesen auch im Interesse der Bürger nach vorne bringen.
Deutschlandradio Kultur: Anfang Oktober gab es ja Wahlen in Bosnien-Herzegowina. Das Staatsgefüge dort ist ja ziemlich komplex. Es gibt also drei Volksgruppen, zwei Landesteile und einen Staat. Im Staatspräsidium sind die drei Volksgruppen – Kroaten, Bosniaken und Serben – vertreten. Der Vorsitz des Staatspräsidiums wechselt alle acht Monate zwischen den drei Ethnien. Der jetzt ins Präsidium gewählte Politiker Bakir Izetbegović gilt als moderater bosnischer Muslim.

Herr Feller, besteht nach der Wahl nun Hoffnung, dass der Dauerstreit zwischen den Muslimen und den Serben jetzt nachlässt, der das Land ja bisher ziemlich beherrscht hat?

Stefan Feller: Es ist noch zu früh, das wirklich zu bewerten. Es gibt Ansätze. Und es gibt Dinge, die möglicherweise Hoffnung machen, dass Dinge anders sein könnten. Das hat im Grunde mit den Wahlen selbst angefangen. Denn die Wahlbeteiligung war höher als in den vorhergehenden Wahlen. Und das Wahlergebnis hat auch deutlich gemacht nach der Einschätzung von Wahlbeobachtern, dass Wähler mit einem dogmatischen, mit einem fundamentalistischen oder mit einem kompromisslosen Verhalten nicht mehr einverstanden waren.

Und das hat sich, glaube ich, in der letzten Woche bei der feierlichen Einweihung der neuen Präsidentschaft gezeigt. Denn die drei Präsidenten, es ist ja so kompliziert, die haben endlich alle drei Reden zur Amtseinführung gehalten, die das Gemeinsame betonen und nicht das Unterschiedliche.

Deutschlandradio Kultur: An diesem Wochenende jährt sich ja das so genannte Dayton-Abkommen zum 15. Mal, das Abkommen, mit dem die Strukturen geschaffen wurden, die eigentlich bis heute in der Region gelten. In einem Zeitungsinterview spricht Izetbegović von der "Dayton-Zeit", die jetzt von einer "Brüsseler Phase" abgelöst werde. Was meint er damit?

Stefan Feller: Die Zeit von Dayton war die Zeit, in der nach dem Krieg in einer Situation, in der alles zusammengebrochen war, das Friedensabkommen und seine Implementierung dazu beitragen müsste, dass diese drei Völker, die Bosnien und Herzegowina ausmachen, einen Weg finden, einen gemeinsamen Staat auch im Interesse der Bürger nach vorne zu bringen. Das funktioniert nun so seit 15 Jahren. Und das hat immer noch damit zu tun oder als Konsequenz, dass es einen hohen Beauftragten der Staatengemeinschaft gibt, der die Einhaltung der Bedingungen des Friedensabkommens von Dayton täglich überwacht.

Dieses Instrument existiert seit 15 Jahren. Auf der anderen Seite gibt es eine zunehmende Annäherung von Bosnien und Herzegowina an die Europäische Union. Im Jahr 2008 ist das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen abgeschlossen worden. Und die dann folgenden Anstrengungen der bosnischen Vertreter die ich auch persönlich miterlebt habe, haben alles daran gesetzt, um Visa-Liberalisierung zu ermöglichen. Die Entscheidung der Europäischen Union zur Visa-Liberalisierung ist gerade in diesen Tagen erfolgt. Und Mitte Dezember wird eine Visa-Liberalisierung zu einer erhöhten Reisefreiheit für Bosnier führen.

Das ist für Bosnier selbst in allen Volksgruppen sehr, sehr wichtig. Und das ist das, was Bakir Izetbegović sicherlich gemeint hat, dass das ein Zeichen dafür ist, dass es eine Bewegung von Bosnien-Herzegowina in der gesamten Region verankert auf die Europäische Union hin geben soll und dass das natürlich dazu führt, dass man sich um so weiter von den Bedingungen des Friedensabkommens entfernt. Das ist eine gute Aussage.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja gerade die Visa-Politik schon angesprochen. Allerdings muss man auch dazufügen, dass Brüssel die Visa-Freiheit unter Vorbehalt gestellt hat. War das zu Recht so?

Stefan Feller: Das weiß ich nicht, ob das zu Recht so war. Recht würde bedeuten, dass vorher jemand gegen die Regeln in Bosnien verstoßen hätte. Das sind die Erfahrungen in der Region, die die Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union dazu geführt haben zu sagen, wir müssen natürlich ein solches Instrument wie das der Visa-Liberalisierung auch beobachten, ob die Bedingungen eingehalten werden.

Es hat Nachbarstaaten in der Region gegeben, die nach der Erreichung von Visa-Liberalisierung dadurch – ich sage mal – aufgefallen sind, dass es einen erhöhten Zustrom von Asylanten gab. Und das hat zu sehr intensiven Diskussionen der EU-Mitgliedsstaaten geführt. Das kann ich sehr, sehr gut verstehen. Und insoweit hat man, und ich habe das persönlich miterlebt, wie das die EU-Kommissarin für Inneres in der letzten Woche auch der Präsidentschaft in Bosnien gesagt hat, hat man gesagt, das ist etwas, wir freuen uns, dass ihr das bekommen habt, aber ihr müsst natürlich auch daran arbeiten, dass die Rahmenbedingungen stimmen, innerhalb dessen das stattfinden kann.

Deutschlandradio Kultur: Also, konkret ausgedrückt, man fürchtet möglichen Asylbetrug?

Stefan Feller: Man fürchtet ihn nicht, aber man möchte ihn ganz gerne verhindern.

Deutschlandradio Kultur: Und wie sollen die Rahmenbedingungen aussehen?

Stefan Feller: Die Rahmenbedingungen sind, dass die Handlungsträger in Bosnien selbst, es gibt Politiker und darunter die Verwaltungsebene, dafür sorgen, dass mit der Visa-Liberalisierung sachgerecht umgegangen wird. Nun kann man sagen, das ist sicherlich ein technischer Prozess. Auf der anderen Seite gibt es politische und wirtschaftliche Prozesse. Denn ich versuche ja nur durch Asyl aus Bosnien wegzukommen, wenn ich mit der Entwicklung in Bosnien einfach nicht mehr einverstanden bin, wenn ich keine Perspektive habe. Und die Menschen in Bosnien-Herzegowina wollen eine Perspektive haben. Und von daher gesehen ist der Aufruf an die Politiker in Bosnien-Herzegowina: Gebt Ihnen eine Perspektive – durch kohärentes Handeln, durch Stärkung des Rechtsstaats und durch die Stärkung von Bedingungen, die wirtschaftliches Wachstum ermöglichen. Das ist natürlich dann, nebenher gesagt, auch das, was Bosnien näher an die Europäische Union heranbringen würde.

Deutschlandradio Kultur: Auf diese Lage im Land kommen wir sicher noch im Verlauf dieses Gesprächs zu sprechen. Herr Feller, aber vielleicht zu Ihrer Rolle: Sie sind seit zwei Jahren Chef der EU-Polizeimission in Bosnien-Herzegowina. Dazu gehören fast 100 Polizisten und fast 200 internationale wie lokale Mitarbeiter, wenn ich das richtig gelesen habe. Was machen Sie da konkret?

Stefan Feller: Wir sind mit dieser Mission seit 2003, also etwas mehr als jetzt sieben Jahren in Bosnien-Herzegowina. Und wir haben damit unsere Arbeit angefangen, wo vorher eine Polizeimission der Vereinten Nationen nach dem Zusammenbruch des Landes, nach dem Ende des Krieges angefangen hat, Polizeiarbeit zu unterstützen. Wir sind jetzt in unserem gegenwärtigen Mandatsteil darauf fokussiert, dass wir den bosnischen Strafverfolgungs- und Justizbehörden bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und bei der Bekämpfung der Korruption Unterstützung leisten.

Deutschlandradio Kultur: Wie machen Sie das?

Stefan Feller: Das ist eine sehr wichtige Frage. Wir sind nicht selbst Polizei. Und wir sind nicht selbst Justiz in Bosnien. Das hat man an anderen Stellen, zum Beispiel im Kosovo, für einige Zeit anders gesehen. Oder das ist zum Teil in der Europäischen Unionskomponente der Polizei im Kosovo heute immer noch so.

Deutschlandradio Kultur: Also, Sie machen es am Schreibtisch?

Stefan Feller: Nicht am Schreibtisch. Das ist eine sehr praktische Arbeit. Wenn Sie am Schreibtisch, an unseren Schreibtischen stattfinden würde, würden wir es falsch machen. Wir machen das zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalb der bosnischen Behörden. Wir machen das durch Training. Wir machen das durch Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wir machen das durch Beobachtung von Fällen.

Das heißt, dort, wo schwierige Fälle der organisierten Kriminalität oder der Korruption zu bearbeiten sind durch unsere nationalen Kolleginnen und Kollegen, beobachten wir, aber nicht alle dieser Fälle, sondern diejenigen, von denen wir glauben, dass wir an diesen Fällen Schwächen und die Stärkung von Fähigkeiten gegen diese Schwächen vermitteln können. Das heißt, es ist eine sehr, sehr ansprechende, eine sehr hochklassige Arbeit, die dazu führt, dass die Fähigkeiten im System wachsen.

Und auf der anderen Seite machen wir noch etwas zusätzlich. Wir vermitteln eine Kultur in der Polizei und in der Justizarbeit, die das Gemeinsame in dieser Vielfalt von Polizeibehörden betont. Das System in Bosnien und Herzegowina ist kompliziert. Ich möchte da gar nicht erst mit anfangen.

Das sind sehr, sehr viele Behörden, die dort existieren auf unterschiedlichen Ebenen und auch ein bisschen unterschiedlicher strukturiert, als es zum Beispiel in der Bundesrepublik der Fall ist. Da haben wir ja auch 18 unterschiedliche Polizeien, 16 Länderpolizeien und zwei Bundespolizeien. Aber die Zusammenarbeit der Behörden, der Justizbehörden in Bosnien ist eine Vorbedingung für die erfolgreiche Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption. Und das ist etwas, was wir täglich mit unseren Ansprechpartner, das sind die Direktoren dieser Einrichtungen und der Generalstaatsanwalt, durchführen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, dann sind Sie jetzt nicht aktiv dabei, wenn es um organisierte Kriminalität und Korruption geht, sondern sie begleiten den Prozess und gucken, was die Kollegen vor Ort machen?

Stefan Feller: Das muss sich nicht widersprechen. Es hat zum Beispiel mehrere Operationen in diesem Jahr gegeben, die auch für internationales Aufsehen und Anerkennung gesorgt haben, bei der wir in der nichtoperativen, in der verdeckten Vorbereitung dieser mehrjährigen Fälle der organisierten Kriminalität permanent am Ball waren und insoweit natürlich auch mit derselben Verschwiegenheit daran gearbeitet haben, wie unsere bosnischen Kollegen. Wir haben sie beraten. Und wenn es dann in die operative Phase kam, sitzen wir natürlich mit diesen Kolleginnen und Kollegen zusammen im Lagezentrum und wir gehen raus. Und wir schauen notfalls auch an, wie das funktioniert. Das heißt, wir sind sehr nah am Puls dieser Fälle, aber die Arbeit wird durch unsere bosnischen Kollegen selbst durchgeführt. Wir können das nicht.

Deutschlandradio Kultur: Können Sie uns mal so einen Fall nennen?

Stefan Feller: Da gab's mehrere. Es gab am Anfang dieses Jahres eine Operation, die sehr stark wahrgenommen worden ist, wo ein gesamtes Dorf in Bosnien kontrolliert worden ist und bei der im Grunde die Polizeiaktion, die gemeinsame Polizeiaktion dazu führte, von über 600 Polizisten, um zu sehen, wo politischer Extremismus zu Terrorismus führen konnte. Zeitgleich hat an anderen Stellen Bosniens eine riesengroße Aktion zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität stattgefunden, an der wir auch teilgenommen haben. Und noch vor drei Wochen hat es in Bosnien eine Operation gegeben gegen illegalen Zigarettenschmuggel von Montenegro nach Bosnien rein und dann wieder raus, bei der 60 Bürger dieses Landes an allen Stellen, einschließlich 21 Polizisten, festgenommen worden sind, weil sie im Verdacht standen, an dieser organisierten Kriminalität teilgenommen zu haben. Und wir beobachten derartige Dinge sehr, sehr nah, um den Zustand des Systems und die Verbesserungsfähigkeiten dieses Systems zu identifizieren.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird denn, wenn man das so generell sagen kann, Ihr Unterstützungsangebot von der nationalen Polizei angenommen? Als willkommene Hilfe oder auch als Einmischung von außen?

Stefan Feller: Ich möchte mich da, und ich möchte uns da nicht selbst loben, aber da ist Einmischung eigentlich überhaupt nicht der Fall. Wir sind eigentlich eher in einer Situation, dass wir unsere Kollegen, unsere Kolleginnen und Kollegen anhalten müssen, Eigenverantwortung auch auf der Ebene von Führung und auf strategischer Gestaltung von Polizei- und Justizarbeit selbst in die Hand zu nehmen, weil sie sich immer noch gerne auf uns und unsere Unterstützung verlassen.

Das ist nun mal so, wenn eine solche Hilfe angeboten wird und wenn sie gut ist, und ich glaub, unsere Hilfe ist ganz gut, dann verlässt man sich da drauf. Aber es gehört mit zu dieser internationalen Arbeit, dass man auch Wert darauf legen muss, dass es einen Zeitpunkt geben muss, wo man in die zweite Reihe tritt, weil die wichtigen Polizei- und Justizdinge in Bosnien und Herzegowina sind diejenigen, die von unseren nationalen Kolleginnen und Kollegen selbst wahrgenommen werden. Das heißt, unsere Stärke, wie ich manchmal sage, liegt da drin, wie wir uns in den Hintergrund stellen können, ohne fachlich schwach zu werden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Feller, Sie sprachen vorhin von der Notwendigkeit, irgendwann die Verantwortung in die Hände der nationalen Polizei zu übergeben. Als Ende der EU-Mission ist ja das Jahr 2011 angedacht. Wird das reichen? Mit anderen Worten: Können Sie dann gehen?

Stefan Feller: Als Fachmann mit sehr, sehr vielen Jahren Erfahrung in diesem Geschäft kann ich sagen, dass es weniger um ein Ende einer Mission geht, sondern um eine Anpassung von Unterstützungsinstrumenten, so dass es in der Unterstützungsleistung, die wir heute anbieten, da, wo es noch erforderlich ist, eine Kontinuität gibt. Und diese Kontinuität muss über das Ende dieser Mission, die wir heute darstellen, hinaus funktionieren. Bosnien soll ja näher an die Europäische Union kommen. Von daher gesehen muss man auch die Instrumente der Unterstützung modernisieren. Und ein Kriseninstrument ist da dann vielleicht irgendwann nicht mehr zeitgerecht.

Deutschlandradio Kultur: Was denken Sie, welche Art der Unterstützung müssen Sie denn noch leisten, auch über 2011 hinaus?

Stefan Feller: Unsere bosnischen Partner, sowohl auf der politischen als auch auf der fachlichen Ebene, sagen, dass sie zur Herstellung von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bereich der organisierten Kriminalität an einigen Stellen noch nacharbeiten müssen. Das hat nichts mit technischer Ausrüstung zu tun, da natürlich auch, aber schlicht und ergreifend mit spezialisierten Fähigkeiten – ob das jetzt verdeckte Ermittlungen sind, ob das Finanzermittlungen sind. Das sind Dinge, da lässt sich nicht, auch in mehreren Jahren ein Trainingszustand und ein Erfahrungszustand nicht so einfach erreichen. Das ist der eine Punkt.

Der andere Punkt ist der, dass die Erfolge dieser Behörden, die überall in Bosnien existieren, auf eine gemeinsame Basis gestellt werden muss, das heißt, dass die Koordination dieser Arbeit, die Kooperation von Behörden untereinander und die Kommunikation miteinander noch nicht da ist, wo wir der Meinung sind, dass sie bereits in ihrem Erreichten stabil ist. Unsere Kollegen, unsere Direktoren, wie ich immer sage, sind da ein Stück weiter als ihre Minister und ihre politischen Verantwortlichen. Und da müssen wir noch ein bisschen Nacharbeit leisten, hab ich manchmal den Eindruck.

Deutschlandradio Kultur: Das Stichwort Kriminalität, Herr Feller, fiel ja bereits. Das Land liegt an der Rauschgiftschmuggelroute zwischen Asien und Westeuropa. Hat sich auch in Bosnien-Herzegowina so etwas wie eine kriminelle Parallelgesellschaft installiert?

Stefan Feller: Ich zögere jetzt deswegen, weil ich nicht so ganz rausfinde, was ist jetzt eine kriminelle Parallelgesellschaft. ich versuche eine Antwort zu finden.

Deutschlandradio Kultur: Strukturen neben den staatlichen Strukturen, die die Gesellschaft und den Staat zu einem großen Teil beherrschen, wäre jetzt meine Definition.

Stefan Feller: Das nehme ich so nicht wahr. Ich nehme eine organisierte Kriminalität wahr, die vergleichbar ist mit allem, was auch in der Region an anderen Stellen existiert. Eine kriminelle Parallelgesellschaft kann ich durch die Erfahrungen, die wir in Bosnien machen, überhaupt nicht bestätigen. Wir nehmen kriminelle Strukturen, wir nehmen Banden, wir nehmen teilweise, ich sage mal, Paten wahr. Man hat Protagonisten der organisierten Kriminalität und man hat ein Netzwerk von organisierter Kriminalität, was sich, ich sage mal, der eigenen Profitmaximierung widmet und was natürlich auch an diesen Strukturen illegaler Menschenhandel, illegaler Rauschgifthandel, an diesen Transitstrukturen entlang arbeitet.

Deutschlandradio Kultur: In welchen Bereichen tritt denn die organisierte Kriminalität in Bosnien-Herzegowina besonders stark auf?

Stefan Feller: Wir haben klassische Phänomene von organisierter Kriminalität. Wir haben die Gruppen, die sich um die, ich sag mal, von dem Weitertransport von Waffen oder von Betäubungsmitteln, von Rauschgiften kümmern. Das sind Gruppen, die teilweise regionaler Natur sind. Das sind Gruppen, die nicht unbedingt nur aus dem Kosovo oder aus Bosnien kommen, sondern die regionale Strukturen und Beziehungen untereinander haben.

Wir haben zum Teil zum Beispiel herausragende Schläge durchführen können, also, meine bosnischen Kollegen gegen Rauschgiftstrukturen, Strukturen der organisierten Kriminalität, die Bezüge zum Kosovo und zu Kosovo-Albanern haben oder die aus anderen Bereichen der Region kommen. Das sind klassische Strukturen von Banden, die dann eben halt auch durch entsprechende Gewalttätigkeiten, durch die Beeinflussung von Zeugen und vieles andere mehr auffallen oder die, und das Beispiel hab ich genannt, Zigaretten schmuggeln. Und es gibt einen anderen Markt, der auch ganz handfest funktioniert, aber eben halt auch regional. Das ist der organisierte Kraftfahrzeugdiebstahl. Das sind Phänomene, die, die organisierte Kriminalität in Bosnien und Herzegowina ausmachen.

Jetzt könnte man sagen, organisierter Kraftfahrzeugdiebsstahl, das muss alles mit BMW X5 oder mit Mercedes S-Klasse oder sonst mit zu tun haben. Die Wirtschaftskraft auf dem westlichen Balkan macht das auch attraktiv für Gebrauchtfahrzeuge. Und das ist immer noch organisierte Kriminalität. Das wird dann allerdings nicht nach Deutschland oder sonst wohin verschifft, sondern möglicherweise einfach nur in der Region meistbietend verkauft oder in Ersatzteillager umgewandelt. Also, das ist ganz, ganz klassisches polizeiliches Arbeiten am Fall und an Tätergruppen.

Deutschlandradio Kultur: Das andere K-Wort heißt Korruption. Wenn ich richtig informiert bin, gehört alles Land dort der Regierung. Das heißt zum Beispiel, Firmen haben nur Bau- oder Nutzungsrecht. Öffnet das nicht zum Beispiel der Korruption Tür und Tor?

Stefan Feller: Sicherlich hat ein Übergang eines Systems aus der kommunistischen Phase und eine Privatisierung sehr häufig auch etwas damit zu tun, dass diese Privatisierung falsch laufen kann. Das hat es an verschiedenen Stellen gegeben. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber ich glaube, auf der einen Seite gibt’s internationale Untersuchungen, wie zum Beispiel Transparency International, die regelmäßig einen Index veröffentlicht darüber, wie denn Korruption wahrgenommen wird durch die Bevölkerung im jeweiligen Land. Und da taucht Bosnien-Herzegowina regelmäßig sehr, sehr weit am unteren Ende, das heißt, mit einer sehr, sehr hohen Wahrnehmung von Korruption auf.

Wahrnehmung und Wirklichkeit, könnte man sagen, muss sich ja nicht unbedingt miteinander verbinden, aber wir haben schon den Eindruck, dass es das tut. Korruption ist eigentlich das Phänomen, was uns in Bosnien und Herzegowina mehr Sorgen bereitet als eigentlich das Phänomen der organisierten Kriminalität. Korruption ist etwas, was man immer gerne nur an hochklassigen Fällen sieht, betrachten möchte, aber das geht bis in den Bereich täglicher Gefälligkeiten hinein. Das geht bis in den Bereich hinein, dass man zum Erlangen medizinischer Leistungen Gelder bezahlt, dass man, um eine Stellenausschreibung zu gewinnen, den Arbeitgeber erst mal entsprechend bezahlen muss. Oder, wenn die Stelle wiederbesetzt werden soll, muss man möglicherweise, glauben Sie es oder nicht, sogar die Schulden des Vorgängers – bezogen auf diese Korruption – auch noch zusätzlich mit übernehmen.

Das hat etwas mit vielen Aspekten des öffentlichen Lebens zu tun. Dazu gehört dann natürlich auch die Frage, inwieweit das in der Polizei stattfindet. Um Korruption zu bekämpfen, muss man ein sehr komplexes Instrumentarium von Maßnahmen ergreifen. Und man muss das natürlich auch wollen. Das heißt, die eigentlichen Eliten eines Systems dürfen das nicht als Lippenbekenntnis verstehen, sondern müssen verstehen, dass die Bekämpfung von Korruption ein zentraler Faktor ist, mit dem Wettbewerbsfähigkeit eines Gemeinwesens hergestellt wird.

Denn Korruption macht Wettbewerb zunichte. Das ist ohne jede Frage so. Das lässt sich auch nachweisen. Und insoweit gibt’s Instrumente, für die wir dastehen. Wir machen zum Beispiel sehr viel mit unseren nationalen Polizeibehörden und Staatsanwälten, bezogen auf die glaubwürdige Durchsetzung einer Null-Toleranz-Strategie im eigenen Bereich. Man muss ja erst mal Vorbild sein. Das geht aber auch so weit, dass wir versuchen, Prozesse mit anzustoßen und zu fördern, die eigentlich über viele, viele Jahre hinweggehen.

Wir haben Öffentlichkeitskampagnen im Bereich der Korruption, die wir betreiben und unterstützen, wo wir die junge Generation ansprechen, wo wir mit Leuten im Alter von 17 bis 24 sagen, ihr seid das, die eigentlich das verändern wollt, wenn ihr das wollt und nur könnt. Ihr seid das, die eure eigene Zukunft in die Hand nehmen müssen. Oder: Ihr entscheidet, ob ihr gegen Korruption seid oder ob ihr irgendwann in diesem System eben halt auch mitschwimmt.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja eben schon davon gesprochen, dass man die Eliten dafür gewinnen muss, für den Kampf gegen Korruption. Haben Sie denn den Eindruck, dass sich das Bewusstsein bei den Eliten in Punkto Korruption denn auch schon so ein bisschen geändert hat, dass man schon mehr darauf eingeht und sagt, ja, wir müssen dagegen vorgehen?

Stefan Feller: Da ist mir noch zu wenig. Das sehe ich eben halt noch nicht. Ich sehe einen sehr, sehr langsamen Prozess, wie man sich mit diesem Phänomen auseinandersetzt. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass es in seiner Dimension, in seiner Schädlichkeitsdimension vielleicht noch nicht hinreichend verstanden ist.

Wir haben eine Agentur zur Bekämpfung der Korruption, die auch Bestandteil dieser Abkommen mit der Europäischen Union sind, dass man das aufbaut. Und diese Agentur existiert immer noch nur rudimentär. Es gibt immer nur, bis jetzt einen geschäftsführenden Direktor dieser Agentur. Und wir hatten gehofft, dass diese Agentur bereits vor einem Jahr so weit arbeitsfähig wäre, dass wir uns mit ihnen hätten verschalten können, um zu gucken, wo können wir dieser Agentur denn helfen. Das passiert noch nicht. Das heißt, Reformprozesse dieser Art, sobald sie auf die politische Ebene in Bosnien kommen, werden langsamer als uns das lieb ist.

Deutschlandradio Kultur: Wie geht man denn nach Ihrem Eindruck mit der Vergangenheit um? Nach wie vor werden Massengräber entdeckt. Gefangene Kriegsverbrecher müssen sich, Beispiel Radovan Karadzic, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Reißen da immer wieder alte Wunden auf? Wird auch nach Kriegsverbrechern weiter gefahndet?

Stefan Feller: Die Bemühungen an der Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs für Kriegsverbrechen des ehemaligen Jugoslawien mitzuarbeiten, die sind da. Bezogen auf Schwächen im System und Kritik muss man natürlich dann eben halt diesen Gerichtshof selbst fragen und meine Kollegen, die für diesen Gerichtshof auch in Bosnien sind. Aber die Bewusstheit dafür, dass das ein Thema ist, die ist vorhanden.

Das andere Thema ist ein größeres Thema, nämlich das Thema, wie man mit den Wunden umgeht. Das ist sicherlich auch ein Thema, was mich am meisten berührt. Denn ich habe sehr vielfältige Kontakte auch mit Organisationen, die sich mit der Aufarbeitung auseinandersetzen, unter anderem mit einer dieser Organisationen aus dem Bereich, die sich "Mütter von Srebrenica" nennen. Ich glaube, dass man in diesem Jahr an einigen Stellen, einschließlich des 15. Gedächtnistages für die Kriegsverbrechen, die in Srebrenica begangen worden sind, dass man vielleicht erste Ansätze, vielleicht mehr als nur erste Ansätze, aber es waren deutliche Ansätze da, dass man sich mit diesem Thema anders auseinandersetzt als in der Vergangenheit, dass es ein Bemühen gab, sowohl auf einer politischen Ebene innerhalb der Region, als auch auf vielen Ebenen der Gesellschaft, nicht nur zu sagen, aber die anderen haben etwas gemacht, sondern zumindest mal zu gucken: Ja, ich höre dir, dem anderen, zunächst mal zu, wo dein Schmerz liegt. Und dann haben wir vielleicht auch eine Chance darüber zu reden, wo mein Schmerz liegt.

Dieses Aufbrechen von Strukturen des nicht miteinander über den Schmerz, den man sich gegenseitig zugefügt hat, zu sprechen, sondern zunächst mal immer erst mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, ist eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Herstellung von Kommunikation. Und Kommunikation ist eine grundlegende Voraussetzung für Versöhnungsprozesse.

Das ist ein Prozess, der mir sehr, sehr viel bedeutet, der auch sehr viel mit einer Stabilität und Weiterentwicklung dieser Gesellschaft zu tun hat und wo man täglich sehen kann, dass – manchmal möchte man sagen, wenn die Wunden nicht mehr schmerzen, dann schmerzen die Narben, aber in Bosnien ist es häufig noch so, dass auch die Narben sehr, sehr schnell aufbrechen können und man trifft individuell bei Menschen auf diese Schmerzen. Das ist auch vollständig verständlich. Das ist nämlich erst 15 Jahre vorbei. Das hört sich aus der Sicht von jemandem, der nicht dort gelebt hat, an wie ein langer Zeitraum vorbei, aber fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meiner Mission haben ganz konkrete Erinnerungen und Schmerzen. Und so geht das jedem dort. Von daher gesehen, ist das Herstellen von Reden über diese Dinge sicherlich eine ganz wichtige Angelegenheit.

Deutschlandradio Kultur: Herr Feller, wir danken Ihnen für das Gespräch.
"Bauern helfen Bauern"
Bosnische Muslime auf dem Land© AP
Das Mahnmal für Srebrenica-Opfer in Potocari
Das Mahnmal für die Opfer von Srebrenica in Potocari© AP