Der Säugling aus der Mülltonne

15.10.2012
Nach der grotesken Familiensaga "Mein Leben in Aspik" und dem trashigen Doppelagentenroman "Adams Fuge" verlegt sich Steven Uhly nun auf das semidokumentarische Erzählen. In "Glückskind" rettet ein Hartz-IV-Empfänger ein Baby aus dem Müll. Das realistische Szenario steht nicht im Widerspruch zum märchenhaften Charakter der anrührenden Geschichte über Empathie, Verantwortung und das Lügen für einen guten Zweck.
Zwei Jahrzehnte lang hatte der Hartz-IV-Empfänger Hans D. alles daran gesetzt, "die Kerben in seinem Gedächtnis" zu löschen, seine Kinder zu vergessen und sich aus der Welt zu verabschieden, doch eine schockierende Entdeckung zwingt den Soziopathen dazu, im Nu Verantwortung zu übernehmen und zurückzukehren in die Gesellschaft.

Steven Uhly ersinnt das Wunder einer zweifachen Rettung: Hans findet einen Säugling, abgelegt in einer Mülltonne. Er zieht das Baby aus dem Dreck, und schon setzt eine Verwandlung ein, die der Autor in vielen alltagspraktischen Szenen eindrucksvoll beschreibt. Uhly tut, was kaum ein zeitgenössischer Autor wagt: Er konzentriert sich ganz auf die Empathiefähigkeit eines bedürftigen Menschen und dessen - mithin unser aller - Angewiesenheit auf Nachbarschaft. Um das Baby ausreichend zu versorgen und bei sich behalten zu können, muss Hans Zweckbündnisse mit Fremden eingehen, doch schnell entdeckt Uhlys Protagonist das Wohltuende und die Schönheit hilfreicher Gesten. Die Sorge um das Baby gibt seinem Leben Sinn, und die Selbstrettung beginnt.

Der Roman "Glückskind" ist wundervolle Erbauungsliteratur, gegenwartsnahe Sozialreportage und Märchen in einem. Gefeiert wird die umstülpende Kraft der Liebe. Uhlys Sinn für Situationskomik und seine zärtlich-ironische Sprache verhindern ein Abdriften in bloße Gefühligkeit. Ostentativ vergleicht der Autor eine Romanfigur mit dem Fährmann im Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Fantastische Listen, mithilfe derer die Brüder Grimm den in einer "Glückshaut" geborenen Jungen vor dem Teufel retteten, wenden auch Uhlys Romanfiguren an, um ihr "Glückskind" zu beschützen.

Hans ist entschlossen, das Findelkind vor den Polizeifahndern zu verbergen. Er weiß, dass er sich strafbar macht. Doch welches Recht befugt den Retter und seine Mitwisser, die des Mordes verdächtigte Kindsmutter im Unklaren zu lassen über den Zustand ihres Säuglings? Wann schlägt Fürsorge in Bevormundung um? Darf man einem Kind später die verletzende Wahrheit über seine Aussetzung ersparen? Ohne falsche Einfühlung zu betreiben, versucht der Autor zu erfassen, was die Kindsmutter zur Aussetzung ihres Babys getrieben hat, und sachlich bedenkt er die Rechte leiblicher Eltern.

In Rückblenden lässt Uhly Szenen aus dem vergeudeten Leben seines Protagonisten aufscheinen. Hans hatte nie um ein geteiltes Sorgerecht für die eigenen Kinder gekämpft. So drängt sich die Frage auf, ob sein später Altruismus nicht bloß einen eingefleischten Egoismus kaschiert. Eingestreute Träume und der Ausweis des verträglichen Ende als Fiktion machen unabweisbar klar, was "Glückskind" ist: ein großartiges poetisches Werk.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Steven Uhly: Glückskind
Roman
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012
260 Seiten, 19,95 Euro
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