"Der Pullover war sozusagen eine vertrauensbildende Maßnahme"

Klaus Bresser im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 21.03.2012
Hans-Dietrich Genscher stehe als Politiker "für die feste Verankerung der Bundesrepublik im Westen und für die Überwindung des Kalten Krieges und der deutschen Teilung", sagt der frühere ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser.
Jan-Christoph Kitzler: Gelber Polunder und ziemlich große Ohren. Jetzt wissen Sie es: es geht um Hans-Dietrich Genscher. Er war mit einer kurzen Unterbrechung Vizekanzler und Außenminister der Bundesrepublik Deutschland von 1974 bis _92. Heute wird Genscher 85 Jahre alt, aber eine große Feier wird das nicht, nur eine im kleinen Familienkreis. Der langjährige Außenminister hat ein krankes Herz, muss Ende des Monats noch einmal operiert werden. Heute erinnert man sich vor allem an ein Bild: Genscher 1989 auf dem Balkon der Prager Botschaft, der DDR-Flüchtlingen verkündet, dass sie ausreisen können in den Westen. Aber Genscher war vor allem auch über lange Jahre ein ziemlich gewitzter Politiker. Darüber habe ich mit einem gesprochen, der ihn oft aus der Nähe erlebt hat. Der Journalist Klaus Bresser hat das Magazin "Monitor" ebenso geleitet wie das "Heute-Journal" im ZDF. Dort war er außerdem zwölf Jahre lang Chefredakteur. Und meine erste Frage an ihn war, welches Bild von Hans-Dietrich Genscher bei ihm denn am stärksten hängen geblieben ist.

Klaus Bresser: Ja, er ist ein Mann, der wie kaum ein anderer für die deutsche Nachkriegsgeschichte steht. Er erlebte ja den Krieg und zwei Diktaturen, die Nazi- und die DDR-Diktatur. Als Politiker stand er für die feste Verankerung der Bundesrepublik im Westen und für die Überwindung des Kalten Krieges und der deutschen Teilung.

Kitzler: Genscher war am Ende natürlich ganz der Staatsmann, der dienstälteste Außenminister. Aber in Zeiten der Bonner Republik, da war er doch vor allem ja auch ein großer Strippenzieher. Wie haben Sie das erlebt?

Bresser: Ja. Herbert Wehner nannte ihn ja den Mann mit den Ohren. In der Tat hörte er das Gras wachsen. Er erkannte die Zeichen der Zeit, er hat die Wende rechtzeitig gespürt, früher als alle anderen, in der Regierung auf Michail Gorbatschow gesetzt. Das war das Visionäre an ihm. Zugleich war er ein Parteitaktiker, der die Leute zusammenhielt und der durch Advokatentricks, so kann man schon sagen, die Partei auf Linie brachte.

Kitzler: War Genscher eigentlich ein typischer Vertreter dieser "Bonner Republik", von der man immer so redet, oder war er dafür zu sehr auch Weltbürger, Weltenbummler?

Bresser: Er war sehr ein Mann Bonns, ist es heute noch. Zugleich aber hat er das ausgeglichen mit einer notorischen Reiserei. Er war ja an mehreren Stellen gleichzeitig präsent. Diese Omnipräsenz zeichnete ihn aus, war auch Gegenstand von Karikaturen. Genschman nannte man ihn ja, und das war als Kompliment gemeint, als Bezeichnung für den wendigen, quirligen, allgegenwärtigen Supermann.
Kitzler: Genscher war ein Taktiker und das innenpolitische Ereignis, was für seine Partei damals eine heftige Zerreißprobe war, für die FDP, das war sicherlich der Wechsel von der Seite der SPD zu der der CDU/CSU. Helmut Schmidt war am Ende seiner Kanzlerschaft, Helmut Kohl wurde der neue Kanzler 1982. War Genscher auch ein Wendehals?

Bresser: Ich war ja ein Sozialliberaler. Brandt und Schmidt, Scheel und Genscher waren für mich die Richtgrößen jener Zeit. Deshalb war ich sehr enttäuscht, als das geschah. Ich glaube, er war kein Wendehals. Er hat erkannt, dass es mit der Regierung Schmidt so nicht weiterging, und er hat die Wende eingeleitet, das sehr bewusst, und das ist nicht einfach passiert, sondern das ist vorbereitet gewesen, und er wollte ins Kabinett Kohl und mit Kohl weitermachen.

Kitzler: Über seine Außenpolitik müssen wir noch reden. Das Stichwort da ist der Genscherismus. Das ist so ein Wort für seinen außenpolitischen Kurs der zaghaften Öffnung in Richtung Osten. Sie haben schon gesagt, er hat ja als erster Gorbatschow beim Wort genommen mit seiner Perestroika. Sie haben gesagt, er war ein Visionär. Aber war er dafür nicht eigentlich zu sehr Realpolitiker auch?

Bresser: Er war beides. Das war sein großes Talent, gleichzeitig in die Zukunft politisch zu arbeiten und die Gegenwart nicht zu vergessen. Genscherismus, das war ja nicht nur liebevoll gemeint. Es bedeutete ja eben auch jene Taktiererei, von der Sie sprachen, jenes Einlenken und auch gelegentliche klein beigeben, Nachsichtigkeit beim Verhalten mit den Potentaten im Osten. Das alles war Genscher in seinem gelben Pullover, und der Pullover war sozusagen eine vertrauensbildende Maßnahme.

Kitzler: Genschers Partei, die FDP, ist heute in schwerer See. Genscher ist der Ehrenvorsitzende. Kann er in dieser Krise helfen, oder kommt er dafür zu sehr aus einer anderen Zeit?

Bresser: Westerwelle war ja mal sein Mann. Später hat er kaum mehr Einfluss auf ihn ausüben können und auf die noch jüngeren, die jetzt sich dabei versuchen, die Partei zu regieren, hat er offenkundig noch weniger Einfluss. Ich denke, wenn man ihm zusieht, dass er mit stiller Verzweiflung den Untergang der FDP betrachtet.

Kitzler: Sie haben Genscher desöfteren interviewt, auch in Hintergrundkreisen erlebt. War er eigentlich grundsätzlich freundlich gegenüber Journalisten, die ja oft auch kritische Fragen gestellt haben?

Bresser: Er war freundlich. Er war aber auch misstrauisch. Als wir die erste "Was-nun"-Sendung mit ihm machen wollten, war ihm das gar nicht geheuer: live, überraschende Fragen, eine nicht kalkulierbare Situation, das war nicht nach seinem Geschmack. Der begnadete Taktiker wollte vorher alles berechnet haben. Wir haben die Live-Sendungen mit ihm dann ohne vorherige Absprachen dennoch gemacht, er hat es ausgehalten und wurde auch zusehends routinierter und ging mit der Presse sehr souverän, sehr professionell um.

Kitzler: 1992 ist er dann zurückgetreten, da war er schon 18 Jahre lang Außenminister, aber er war erst 65 Jahre alt. Dieser Rücktritt hat damals viele überrascht. Wie erklären Sie sich diesen Rücktritt?

Bresser: Wir haben gelegentlich darüber gesprochen, als er mir vorwarf, dass ich vor 65 mit dem Chefredakteur des ZDF aufgehört habe, und da habe ich gesagt, da haben Sie gut reden, Sie haben doch viel eher aufgehört. Aber wir waren uns einig: Wir haben es beide zur richtigen Zeit getan. Inzwischen weiß man, dass es keinen Grund dafür gab bei Genscher, also keine Notlage bestand, den Job zu quittieren, sondern es war für ihn wohl mit 18 Jahren auch genug. Ich muss zu seinem 85. sagen, wir hatten das Glück, ihn diese 18 Jahre zu haben, zur richtigen Zeit zu haben. Als Journalist sagt man das ja nicht so schnell: große Anerkennung, hohen Respekt und Glückwunsch zum 85.

Kitzler: Klaus Bresser, der langjährige Chefredakteur des ZDF, über einen anderen lang gedienten Mann, der heute 85 wird, Hans-Dietrich Genscher. Herr Bresser, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Bresser: Vielen Dank auch.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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