"Der Poet ist der transzendentale Arzt"

Von Barbara Dobrick · 21.03.2009
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen als viertes Kind iranischer Eltern, ist habilitierter Orientalist und lebt heute als freier Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Die Vorstellung, Identität sei etwas Starres, das man früh erwerbe und unverändert durchs Leben trage, hält er für irreal. Kermani jedenfalls schöpft aus der Vielfalt verschiedener Lebenswelten und kultureller Erfahrungen.
"Ich wuchs in Siegen auf, wo ich auch geboren bin, eine Stadt, mit etwa 100.000 Einwohnern, stark durch den Calvinismus geprägt, also protestantisch, und auch nicht unbedingt sinnenfroh. Ich wuchs in einem Milieu der oberen Mittelklasse auf, in dem es nicht viele andere Ausländer gab."

In der Schule gehörte Navid Kermani ganz selbstverständlich dazu. Völlig normal war es für ihn aber auch, dass in seinem Elternhaus vieles anders war als in der Außenwelt und er beim Nachhausekommen eine imaginäre Grenze überschritt.

"Die Farben, die Sprache, die Kultur, der Verhaltenskodex - all das änderte sich von einem auf den anderen Schritt. Wenn ich nach Hause kam, war ich ein ganz normaler iranischer Junge, so normal es eben ist, wenn man in Deutschland groß geworden ist. Jedenfalls waren die Verhältnisse bei uns typisch persisch. Damals habe ich darüber nicht nachgedacht. Es war alles so selbstverständlich. Man lebte gleichzeitig mit und in zwei Kulturen. Und es war niemals ein Problem, sondern man hat es einfach so hingenommen. Drüber nachgedacht über all das habe ich erst, als es von außen an mich als Problem herangetragen worden ist, als man mich fragte: Was ist eigentlich deine Identität."

Für Navid Kermani, der sowohl einen deutschen als auch einen iranischen Pass besitzt, gibt es nur einen denkbaren Identitätskonflikt: Zu wem sollte der Fußballfan halten, wenn sein Lieblingsverein, der 1. FC Köln, gegen die iranische Nationalmannschaft antreten würde? Aber sonst ist die Vorstellung, Identität sei etwas Starres, das man früh erwerbe und unverändert durchs Leben trage, irreal, sagt er.

"Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass viele, die sich über diese Identitäten Gedanken machen, offenbar selbst damit überhaupt keine Erfahrungen haben. Es ist offenbar für viele Deutsche nicht nachzuvollziehen oder nicht mehr nachzuvollziehen, muss man ja sagen, denn auch das war in Deutschland ja mal anders, dass man gleichzeitig mit verschiedenen Kulturen leben kann, dass Mehrsprachigkeit, die ja kulturgeschichtlich die Regel ist, also eher die Regel als die Ausnahme, das ist keine Krankheit, das ist nicht ein zu überwindender Zustand."

Kermani kann wunderbar davon erzählen, wie man gleichzeitig mit islamischen Gebeten und der Musik von Pink Floyd und Led Zeppelin aufwachsen kann und was die Musik von Neil Young strukturell mit der Musik persischer Mystiker gemein hat. Der Arztsohn studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaft, hat sich nach seiner Promotion habilitiert, dann aber für die Arbeit als freier Schriftsteller entschieden.

"Ich bin meiner Bildung nach, nach dem, was ich gelesen hab, durch und durch Deutscher. Für mich ist nicht Hafis, sondern Hölderlin jemand, mit dem ich lebe oder mit dem ich aufgewachsen bin. Andererseits ist die persische Küche die, die ich am besten kenne und die bei mir das Gefühl erweckt von Zuhausesein, von Vertrautheit. Das sind Gefühle. Aber so was wie Deutschland, Iran, das sind Bezeichnungen, das sind Pässe, das sind auch Verpflichtungen natürlich, insofern der Begriff Verfassungspatriotismus, man weiß, man lebt in diesem Gemeinwesen und achtet es. Man respektiert das Grundgesetz nicht nur, sondern findet es richtig gut und verteidigt es gegen diejenigen, die es bekämpfen, egal von wo sie kommen. Ob das nun Islamisten sein mögen oder Neonazis oder so genannte Terrorbekämpfer, die dann Hand anlegen an das liberale Gemeinwesen. Aber ich wedele nicht mit Fahnen."

Stattdessen hat er sich schon mit Anfang Vierzig als überaus produktiver Autor erwiesen: als wissenschaftlicher und politischer Publizist, als Verfasser packender Reisereportagen und als Erzähler. Bei allem spürt man, wie ernst Kermani die Sprache nimmt, wie sehr er sie liebt. Mehrfach schon wurde der Autor ausgezeichnet, zuletzt mit dem Stipendium der Villa Massimo.

Kermani bereichert die deutsche Literatur auch durch ungewöhnliche thematische Verknüpfungen. Beispielsweise in seiner Erzählung "Das Buch der von Neil Young Getöteten". In der geht es darum, wie er als Vater eines Babys, das sich allabendlich schreiend in Drei-Monats-Koliken windet, Zuflucht in der Musik sucht.

Tatsächlich, die kleine Tochter beruhigt sich, wenn der Vater sie zu Songs von Neil Young in seinen Armen wiegt und dabei über Musik, Gott und die Welt nachdenkt:

"Das Richtige tun wir aber frühestens, wenn es zu spät ist, um von uns noch für richtig gehalten zu werden. Dass wir zweifeln, ist unser ganzes Malheur. Mit Gott ist es dasselbe. Wären wir selig vor Glaubensgewissheit oder glaubten nicht an ihn, uns wäre wärmer ums Herz. Aber wir paar arme Tröpfe, denen man den Platz zwischen den Stühlen zugewiesen hat, nein, die sich nicht für einen Stuhl entscheiden können und sich ihre missliche Lage also obendrein noch selbst zuzuschreiben haben, wir Morgenlandfahrer dritter Klasse glauben an Gott und daran, dass er fern ist."

Nicht nur wirtschaftlich, auch intellektuell gibt es eine Globalisierung. Und Navid Kermani ist ein besonders interessanter Vertreter der neuen geistigen Weltläufigkeit. Er leistet weit mehr, als deutsche Politiker sich von Bürgern mit so genanntem Migrationshintergrund wünschen. Allerdings sind manche selbst viel zu provinziell, um das erkennen zu können.

"Es passiert auch immer wieder, das ist mir persönlich auch gar nicht unangenehm, nur politisch finde ich es schon verblüffend, dass man irgendwo auftritt oder eine Rede hält, und der Vorredner, und das kann sogar ein Minister sein, sagt dann: Ich freue mich sehr, unseren iranischen Schriftsteller zu begrüßen. Das ist mir persönlich eigentlich ziemlich egal, als was die mich sehen, aber es ist natürlich, man ist hier geboren, man lebt seit 42 Jahren, meine Eltern sind seit über 50 Jahren hier. Ich bin Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, aber für den Minister bin ich dann immer noch der Ausländer. Und dann gleichzeitig natürlich das Verlangen, dass man sich integriert. Ich glaube, da passt Erwartungshaltung und eigenes Bewusstsein noch nicht so ganz zusammen in allen Köpfen."

Navid Kermani begegnet solchen Phänomenen mit einer Ironie, die zeigt, dass es auch verletzend ist oder doch zumindest auf die Nerven geht, sich immer wieder selbst erklären zu müssen.

Kermani ist übrigens nicht nur Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sondern auch Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. In seinem jüngsten Buch "Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime" beschreibt er in bester aufklärerischer Manier Eckpunkte für gelungenes multikulturelles Leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Das macht er nicht abstrakt, sondern ausgehend von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dabei knöpft er sich auch die Art vor, in der über das Zusammenleben von deutschstämmigen und zugewanderten Bürgern debattiert wird.
"Wenn ich in einer Talkshow sage: Der Islam ist ..., dann passt das rein, dann klingt das auch erst mal überzeugend. Eine Bombe geht hoch, also ist die Aussage, der Islam ist gewalttätig, zunächst mal schlüssig. Wenn man versucht zu differenzieren, dann fängt man an, sich selbst zu widersprechen oder Dinge von verschiedenen Seiten zu besehen, und all das geht natürlich in der Art und Weise, wie über diese Themen diskutiert wird, komplett unter, oder es wird einem, sobald man zum Aber ansetzen möchte oder sich selbst vielleicht widersprechen möchte oder einen anderen Aspekt hinzufügen möchte, wird einem schon das Wort abgeschnitten. Insofern sind Leute wie ich angewiesen auf das Medium Buch, weil sie dort Gedanken etwas länger entwickeln können. Diese Möglichkeiten gibt es in den auflagenstärksten Medien oder unter dem Aspekt der Einschaltquote ist das kaum möglich."

Denn dort geht es um Zuspitzungen, um Erregung. Deshalb werden keine Gesprächspartner gesucht, sondern Kontrahenten, die für Polarisierungen sorgen. Kermani hingegen beschreibt die Vielfalt der Wirklichkeit überzeugend, weil er Gelungenes ebenso wie noch zu Bewältigendes thematisiert.

Navid Kermani kennt die Welt, vor allem die islamische Welt sehr gut, denn er ist viel und weit gereist. Das schärft auch den Blick auf Deutschland. Er schöpft aber auch aus seinem Alltag in Köln.

Beunruhigt ist Kermani darüber, dass neuerdings auch in deutschen Kirchenkreisen Zuspitzungen stattfinden.

"Das gilt jedenfalls für die Kirchenspitze. Vor Ort ist das anders, in den meisten Gemeinden, die ich kenne. Aber in der Tat ist es so, dass in den letzten zwei, drei Jahren oder vier Jahren die Führung der evangelischen Kirche auf eine stärkere Abgrenzung, eine Konfrontation setzt mit den Muslimen. Dazu muss man sagen, das schreibe ich auch in aller Ausführlichkeit, dass, wenn es einen Integrationsmotor gab, eine Institution gab, die sich für die Muslime eingesetzt hat in den vergangenen Jahrzehnten, dann waren das die beiden großen Kirchen. Während der Staat komplett verschlafen hat, dass da Einwanderer gekommen sind, haben die Kirchen sich wirklich gekümmert. Keine Moschee in Deutschland wird gebaut, wenn nicht die Kirchen als Fürsprecher auftreten.

Das muss man einfach dazu sagen, wenn man dann sagt, hier sehe ich aber manche Entwicklungen in der jüngeren Zeit kritisch. Ich beobachte, dass die Kirchenspitze oder einige Bischöfe in der Kirchenspitze, den Islam entdeckt haben als Feld, sich als aufklärerisch zu profilieren und dabei Argumente aufgreifen, die offenkundig aus Kreisen kommen, die man nicht anders als fundamentalistisch bezeichnen kann."

Deutschland sei weltoffener geworden und habe eine gewaltige Integrationsleistung erbracht, konstatiert Kermani. Das gelte es ebenso zu sehen wie die Aufgaben, die wir noch zu bewältigen haben. Zu diesem Wir gehören auch die Zuwanderer selbst.

"Es gibt jedenfalls einen Alltag, der häufig ausgeblendet wird. Das bedeutet nicht, dass es in vielen Städten, speziell in Großstädten Problemviertel gibt, in denen die sozialen Verhältnisse auf der Kippe stehen, wenn sie nicht schon gekippt sind, dass es in den Schulen viele Probleme gibt, dass es Schulen gibt, wo Kinder von vornherein kaum Chancen haben, weil etwa die wenigsten Kinder noch Deutsch sprechen. Es gibt kulturelle Konflikte. Es gibt eine starke Benachteiligung der Frauen in den Einwanderermilieus. Über all das ist zu reden.

Aber wenn man den kompletten Alltag, die Normalität ausblendet, etwa ausblendet, dass mittlerweile der Anteil von Migranten mit Abitur höher ist als der Anteil von deutschstämmigen Kindern mit Abitur, wenn man übersieht, wie Migranten auch anderswo Fuß fassen, in den Medien, im Fernsehen, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in ganz normalen Berufen, als Lehrer, als Ärzte, wenn man all das ausblendet und nur auf die Probleme achtet, dann ist ja klar, dass man meint, die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert.""

Etwas Gutes hatten ärgerliche Polarisierungen wohl auch: Sie haben uns unsere Versäumnisse bewusst gemacht, vor allem die in Kindergärten und Schulen. Und Konfrontationen rufen auch so differenzierte Stimmen auf den Plan wie die von Navid Kermani.

Der Islamwissenschaftler Kermani benennt treffsicher das beliebte öffentliche Spielchen, die eigene Meinung durch einzelne Zitate aus dem Koran als richtig zu belegen, als "Surenpingpong". Da spielt er nicht mit. Stattdessen beleuchtet er süffisant die Rolle vermeintlicher westlicher Experten, die Muslime darüber belehren wollen, wie streng ihre Religion in Wirklichkeit sei.

"Es wird zu wenig berücksichtigt, dass eine Religion nicht nur aus Buchstaben besteht, sondern eine Religion wird auch gelebt. Eine Religion besteht daraus, wie Dogmen in einer Wirklichkeit angewandt werden, und zwar werden sie automatisch sehr viel durchlässiger, ambivalenter, widersprüchlicher auch. Und wenn es im Koran heißt, dies oder jenes, heißt das noch keineswegs, dass die Muslime dies oder jenes auch sind. Das ist eine fundamentalistische Betrachtungsweise, eine Schrift zu nehmen, und daraus die Wirklichkeit abzuleiten."

Navid Kermani klärt darüber auf, dass jede Auslegung des Korans nach traditioneller islamischer Auffassung menschlich und daher relativ sei.

"Das war immer das Dogma der islamischen Orthodoxie: Wenn Sie einen Korankommentar aufschlagen, finden Sie immer verschiedene Deutungsmöglichkeiten und niemals die eine, die auf jeden Fall gilt. Das ist ein moderner Anspruch der Fundamentalisten, die behaupten, sie hätten die Wahrheit gepachtet. Das ist eigentlich mit Blick auf die islamische Tradition, ist das in hohem Maße frevlerisch, zu behaupten, man hätte die allgemeingültige Deutung."

Kermani weist darauf hin, dass der islamische Fundamentalismus nicht in der Orthodoxie entstanden sei, sondern eine Antwort ist auf die Krise der Orthodoxie.

"Ja, jedenfalls die Wortführer waren keine Theologen, sondern kamen meistens aus der Mittelschicht, meistens Techniker und Ingenieure von Beruf, aus diesem Milieu. Es waren Leute, die enttäuscht waren von den Antworten, die die Prediger gaben und dann selbst angefangen haben den Koran zu lesen und dann diese Tradition weggelassen haben, den Koran sozusagen als nackte Schrift gelesen haben, und dann eben auch wörtlich ausgelegt haben."

Navid Kermani möchte keineswegs dauernd über den Islam und die multikulturelle Gesellschaft räsonieren, sondern auch Geschichten erzählen. Geschichten, in denen es um Liebe und Tod geht, um Lust und Verzweiflung, um Angst und Einsamkeit, Geschichten zu den großen Themen des Lebens also, wie sie Schriftsteller seit alters her bewegen. Navid Kermanis Erzählungen sind allerdings besonders modern, denn sie wachsen in einer noch jungen Erfahrungswelt.

Gleichzeitig nimmt ein so gebildeter Autor wie Kermani aber auch Maß an der klassischen Literatur und an der Kraft religiöser Texte. Sein Buch "Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran" wurde hoch gelobt wegen seiner stilistischen Brillanz und weil es den Islam in seiner Schönheit erschließt. Dort zitiert Navid Kermani Novalis mit dem Satz: "Der Poet ist also der transcendentale Arzt". Diese Beschreibung passt gut auch auf Navid Kermani. Mit anderen Worten: Wir dürfen gespannt sein und uns auf weitere eigenwillige und elegant geschriebene Bücher von ihm freuen.