Der Nürnberger Prozess 1945/46

Recht statt Rache

30:05 Minuten
Historische Farbaufnahme der Angeklagten während des Prozesses gegen die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärtribunal IMT, bei dem 22 Anführer von Nazi-Deutschland vor Gericht standen.
Blick auf die Angeklagten im Nürnberger Justizpalast: Die USA und Großbritannien setzten durch, dass sich die Nazi-Größen vor Gericht verantworten mussten. © imago images / Reinhard Schultz
Von Winfried Sträter · 18.11.2020
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"Die wahre Klägerin ist die Zivilisation", sagte der US-Chefankläger 1945 in Nürnberg. Das Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher sollte eine welthistorische Zäsur sein. Doch nach spektakulärem Auftakt zeigte sich: Die Rechtsfindung war schwierig.
"Im Herbst und Winter 45/46 war Nürnberg ein Zentrum der Welt", schreibt Robert Kempner, deutsch-amerikanischer Anklagevertreter beim Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, in seinen Lebenserinnerungen. "Berlin war nichts Besonderes, sondern eine zerstörte Stadt. Die Pariser, Londoner, Römer fingen allmählich wieder an zu leben. Die ganze Welt schaute aber auf Nürnberg, wo die einstigen Schrecken der Völker abgeurteilt wurden."
Das war eine weltgeschichtliche Premiere: Fünf Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft mussten sich Hauptverantwortliche des Regimes vor Gericht verantworten. Der Internationale Militärgerichtshof war von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eingerichtet worden, von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion, mit Sitz in Berlin.

"Rudolf Heß." - "Nein!"
"Joachim von Ribbentrop." - "Ich bekenne mich im Sinne der Anklage für nicht schuldig."
"Wilhelm Keitel." - "Ich bekenne mich nicht schuldig."

Doch das Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde in Nürnberg, in der amerikanischen Besatzungszone, durchgeführt, im Justizpalast. Das größte Justizgebäude Bayerns war trotz einiger Kriegsschäden funktionsfähig geblieben und von der US-Armee besetzt worden.
Seitdem sich 1943 der Sieg der Alliierten gegen Hitlerdeutschland abgezeichnet hatte, beschäftigten sich deren Staatschefs mit dieser Frage: Was machen wir mit den Deutschen, die an diesem Krieg schuld sind und die in diesem Krieg Verbrechen zu verantworten haben?

"Ich trinke auf die Justiz einer Erschießungsabteilung"

Der britische Premierminister Churchill, der amerikanische Präsident Roosevelt und der sowjetische Staatschef Stalin trafen sich im November 1943 in Teheran. Bei einem gemeinsamen Abendessen wurde nach russischer Sitte die Unterhaltung in die Form von Trinksprüchen gekleidet. Ein Sohn des amerikanischen Präsidenten hat festgehalten, was an jenem Abend geschah:
"'lch möchte einen Toast auf das prächtige Wetter ausbringen, dessen wir uns erfreuen!' Alle erheben sich von ihren Plätzen und nehmen einen Schluck aus den Gläsern. 'lch möchte einen Toast ausbringen auf die künftigen Lieferungen von Kriegsmaterial!' Alle stehen auf und trinken sich zu. Stundenlang.
Gegen Ende der Mahlzeit erhebt sich Stalin. Auch er hat schon einige Dutzend Trinksprüche gesagt. Doch nun bringt er eine ganz neue Note in die feuchte Plauderei. 'lch trinke', sagt er dunkel, 'auf die möglichst rasche Justiz für alle deutschen Kriegsverbrecher. Ich trinke auf die Justiz einer Erschießungsabteilung.'
Im Speisesaal tritt beklommenes Schweigen ein. Stalin fährt unbeirrt fort: 'lch trinke auf unsere Entschlossenheit, sie sofort nach der Gefangennahme zu erledigen, und zwar alle, und es müssen ihrer mindestens 50.000 sein.'
Alle Anwesenden sind erstarrt. Ein polterndes Geräusch fällt in die Stille. Churchill ist blitzschnell von seinem Stuhl aufgesprungen, und das will für den behäbigen Briten viel heißen. 'Ein solches Vorgehen', ruft der Premier mit rotem Kopf und Brandy-schwerer Zunge, 'steht in schroffem Gegensatz zu der britischen Auffassung vom Recht!'"

Gerichtsverfahren oder Liquidierung?

Seit jenem Trinkspruch Stalins beim Gipfeltreffen in Teheran 1943 beschäftigte die künftigen Siegermächte die Grundsatzfrage: Sollen die deutschen Kriegsverbrecher liquidiert oder vor ein ordentliches Gericht gestellt werden?
Im Frühjahr 1945 beschließen die Staatschefs der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens bei einem Treffen auf der Krim die Besetzung Deutschlands und die Aufteilung in Besatzungszonen. Die Frage allerdings, wie sie mit den Verantwortlichen des nationalsozialistischen Regimes und seiner Kriegsverbrechen umgehen sollen, haben sie noch nicht beantwortet. Auch die Briten bekommen Zweifel, ob ein Gerichtsverfahren besser ist als standrechtliche Erschießungen – weil solche Verfahren letztlich unkalkulierbar sind.

"Hans Frank." - "Ich bekenne mich nicht für schuldig."
"Wilhelm Frick." - "Nicht schuldig."

Im Auftrag des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt reiste seit März 1945 einer der führenden amerikanischen Juristen durch die europäischen Hauptstädte: der oberste Bundesrichter und ehemalige Justizminister Robert Jackson.

US-Chefankläger kämpft für Rechtsstaatlichkeit

Er kämpfte für ein rechtsstaatliches Verfahren gegen die Hauptschuldigen Hitlerdeutschlands. Er argumentierte: "Entweder müssen die Sieger die Geschlagenen richten, oder sie müssen es den Besiegten überlassen, selbst Recht zu sprechen. Nach dem Ersten Weltkrieg haben wir erlebt, wie müßig das letztere Verfahren ist."
Bei den Amerikanern hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Exekutionen nur böses Blut schaffen würden. Robert Jackson macht im Juli 1945 darauf aufmerksam, dass sich Deutschland trotz der Kapitulation noch im Kriegszustand mit den Alliierten befindet und das Tribunal eine Fortsetzung der alliierten Kriegsanstrengungen gegen Deutschland sei.
US-Ankläger Robert H. Jackson beim Internationalen Strafgerichtshof (ITM) in seinem Büro in Nürnberg.
US-Ankläger Robert Jackson war verärgert über die die Hinhaltetaktik der Sowjets. © imago images / Leemage
Zugleich verweist Jackson darauf, dass das Tribunal nicht nur auf der Grundlage internationalen Rechts verhandeln wird, sondern auch geleitet sein wird von grundlegenden Prinzipien der Rechtsprechung als Teil der Zivilisation, die von allen Nationen verinnerlicht worden ist.
Für Jackson ist klar, dass die Naziführer ein Gerichtsverfahren bekommen werden, das sie niemandem während ihrer Herrschaft gewährt hatten.
Robert Kempner, deutscher Emigrant und einer der amerikanischen Ankläger in Nürnberg, sagte dazu später:
"Es ist eigentlich immer der Fall, dass eine siegende Gruppe, auch eine in der Gesellschaft siegende Gruppe, über Außenseiter, über die besiegten Gruppen urteilen, das ist in jedem Lande der Fall. Aber hier möchte ich überhaupt sagen, man kann nicht sagen, Sieger gegen Besiegte, sondern man muss doch eigentlich sagen, Befreier der einzelnen vorher unterdrückten Länder gegen die Unterdrücker. Das ist doch etwas ganz anderes und hat nicht diesen unangenehmen Beigeschmack wie Sieger gegen Besiegte."

"Das Beweismaterial hat auf einer Karteikarte Platz"

Die Schwierigkeiten, die Alliierten für ein ordentliches Gerichtsverfahren zu gewinnen, waren so groß, dass der Plan immer wieder zu scheitern drohte. Die Alliierten hatten Angst, dass es bei einem Prozess zu für sie peinlichen Enthüllungen kommen würde. Engländer und Sowjets waren verstimmt, weil der Amerikaner Jackson den Prozess nahezu im Alleingang durchsetzen wollte und sie nur noch dem zustimmen sollten, was er vorbereitet hatte.
Robert Jackson seinerseits war über die Hinhaltetaktik der Sowjets schließlich so erbost, dass er sich nur noch ein Verfahren ohne ihre Beteiligung vorstellen konnte.
Vor allem sah es zunächst danach aus, als ob die Anklage nicht durch das nötige Beweismaterial untermauert werden könnte. In ganz Europa waren alliierte Fahnder unterwegs. Ausgerüstet mit Schreibmaschinen und Vervielfältigungsapparaten suchten sie nach Belastungsmaterial gegen die potenziellen Angeklagten. Massen von Dokumenten trugen sie zusammen.
Trotzdem war Robert Jackson noch Ende Juni nahezu verzweifelt, weil für die große Anklage nicht die nötigen Beweise gefunden waren. Der amerikanische Oberst Murray Bernays, im Zivilberuf ein Rechtsanwalt, schrieb Anfang Juli 1945 entnervt an das amerikanische Kriegsministerium: "Das wirklich vorhandene Beweismaterial hat auf einer Karteikarte Platz."
Während die Amerikaner im Frühsommer 1945 schon an einer Anklage basteln, ist die Grundsatzfrage, ob überhaupt ein Prozess stattfinden soll, noch gar nicht geklärt. Den Durchbruch bringt die Potsdamer Konferenz der Großen Drei im Juli und August.

Verständigung auf Internationales Militärtribunal

US-Präsident Truman, Nachfolger des kurz vor Kriegsende verstorbenen Franklin D. Roosevelt, Churchill und Stalin verständigen sich darauf, ein Internationales Militärtribunal einzurichten. Das förmliche Abkommen, das Londoner Statut, folgt am 8. August, es bezieht auch Frankreich mit ein. Die Juristen haben für dieses Verfahren ein heikles Problem zu lösen.
Gerichtsverfahren in einem Rechtsstaat werden nach einschlägigen Gesetzen geführt. Die Ankläger für das Nürnberger Tribunal mussten die juristischen Grundlagen erst schaffen. Dabei konnten sie sich in manchen Punkten auf Völkerrechtsbestimmungen oder auf internationale Abkommen stützen. So war ein Angriffskrieg seit 1928 geächtet. Auch gab es eine internationale Konvention gegen Kriegsverbrechen. Und in den von Deutschland überfallenen Ländern gab es Gesetze, die die Gräueltaten, die Deutsche dort verübt hatten, unter Strafe stellten.
Letztlich gingen die Taten und damit die Anklagen jedoch über das hinaus, was als Verbot bereits schriftlich fixiert war.
Wer aber sollte angeklagt werden? Seit Kriegsende fahnden die Alliierten nach Kriegsverbrechern. Eine "Kommission für Kriegsverbrechen" setzt eine Million Namen auf ihre Fahndungslisten.

Einigung auf 24 Hauptverantwortliche

Im Tribunal kann aber nur gegen wenige Hauptverantwortliche exemplarisch verhandelt werden. Die vier Siegermächte einigen sich schließlich auf 24 Männer. Die konfus die Vorbereitungen zum Teil liefen, offenbart eine Posse bei der Auswahl der Angeklagten.
Als einziger Industrieller stand auf der Liste ein gewisser Alfred Krupp. Die Franzosen und Sowjets hatten unbedingt einen Krupp auf der Liste haben wollen, aber die Amerikaner, in deren Besatzungsgebiet sich die Krupps aufhielten, waren nicht darüber im Bilde, wer der Chef des Hauses war. Als das amerikanische State Department den Namen Alfred Krupp las, verbesserte es und machte daraus: Baron Alfried Krupp.
Das war korrekt und bezeichnete auch das Oberhaupt der Familie. Der Nürnberger Chefankläger Robert Jackson aber korrigierte die korrigierte Liste und machte aus Alfried – Gustav Krupp. Der war der Vater von Alfried, senil und unzurechnungsfähig. Ihm konnte gar nicht mehr der Prozess gemacht werden. Aber das merkten die Ankläger erst später.

Pannen bei der Erarbeitung der Anklage

Diese Panne war eine unter vielen bei der Erarbeitung der Anklage für das Tribunal. Das entscheidende Problem konnte aber im Vorfeld gelöst werden: Im August/ September 1945 besserte sich die Beweislage für die Anklage von Tag zu Tag. Den Ermittlern kam zugute, dass die deutschen Behörden vieles sorgfältig aufgezeichnet und archiviert hatten.
Robert Kempner im Rückblick: "Und so wurde unerhört viel gefunden, Tagebücher zum Beispiel von dem später angeklagten Polen-Gouverneur Hans Frank, Aufzeichnungen von dem später angeklagten Alfred Rosenberg, dem weltanschaulichen Theoretiker der NSDAP, aber ganze Ministerien hatten ihre Akten ausgelagert."
Egon Kubuschock, Verteidiger der Reichsregierung in Nürnberg, musste zu seinem Bedauern feststellen: "Hier habe ich mir manchmal gedacht, der deutsche Behördenapparat hat hier zuungunsten der damaligen hohen Beamten, die jetzt angeklagt sind, funktioniert, alles, was überhaupt da war, ist schriftlich festgelegt worden, in Exemplaren, ich glaube, in 14 Stücken sind sie überall vergraben worden, oder sichergestellt worden, und es war natürlich ein Leichtes, das 14. Exemplar irgendwo zu finden, und so kam praktisch das ganze Dokumentenmaterial, was in dieser Zeit im Behördenlauf gewesen ist, kam nun auf den Tisch, und wir standen überraschend davor."

"Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter"

Angeklagt werden die Beschuldigten des NS-Regimes wegen Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die umfangreiche Anklageschrift beginnt in trockener Juristensprache und nennt dann auch die Verbrechen, für die sie verantwortlich gemacht werden:
"Alle Angeklagten haben mit verschiedenen anderen Personen während eines Zeitraumes von Jahren vor dem 8. Mai 1945 als Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter an der Ausarbeitung oder Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung teilgenommen, die darauf abzielte oder mit sich brachte, die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität, wie sie in dem Statut dieses Gerichtshofes definiert sind…
Die zur Ausrottung angewendeten Methoden in Konzentrationslagern waren: schlechte Behandlung, pseudowissenschaftliche Experimente (Unfruchtbarmachung von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück, Studium der Entwicklung von Gebärmutterkrebs in Auschwitz, von Typhus in Buchenwald, anatomische Untersuchungen in Natzweiler, Herzinjektionen in Buchenwald, Verpflanzung von Knochen und Entfernung von Muskeln in Ravensbrück, usw.), Gaskammern, Gaswagen und Einäscherungsöfen…"

Gebrochene Männer auf der Anklagebank

Nürnberg, 20. November 1945. Prozessauftakt im Justizpalast.
Der amerikanische Hauptankläger Robert Jackson sagt: "War crimes and crimes against humanity: Hermann Wilhelm Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Robert Ley, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Karl Dönitz, Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel, Alfred Jodl, Martin Bormann."
Blick in den Nürnberger Justizpalast während der Eröffnung des Hauptkriegsverbrecherprozesses am 20. November 1945 vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Rechts die Angeklagten, vor ihnen die Verteidiger, im Hintergund die Staatsanwälte, ganz hinten die Pressevertreter. Oben auf der Galerie Zuschauer.
Blick in den Nürnberger Justizpalast während der Eröffnung des Tribunals am 20.11.1945: © picture-alliance / dpa
In seiner Eröffnungsrede macht Chefankläger Robert Jackson deutlich, welche Bedeutung dieses Verfahren nach den welthistorisch unvergleichlichen Verbrechen hat:
"Auf der Anklagebank sitzen etwa 20 gebrochene Männer. Die Möglichkeit, jemals wieder Unheil zu stiften, ist ihnen für immer genommen. Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten, wie sie hier als Gefangene vor uns sind, kaum vorstellen, mit welcher Macht sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben.
Als Einzelpersonen gilt der Welt ihr Schicksal wenig. Da die Angeklagten aber unheilvolle Gewalten vertreten, die noch lange in der Welt umherschleichen werden, wenn sie selbst schon zu Staub geworden sind, ist diese Verhandlung von solcher Wichtigkeit. Sie sind, wie wir zeigen werden, lebende Sinnbilder des Rassenhasses, der Herrschaft des Schreckens und der Gewalttätigkeit, der Vermessenheit und der Grausamkeit der Macht."

"Alfred Rosenberg." - "Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht für schuldig."
"Julius Streicher." - "Nicht schuldig."
"Walter Funk." - "Ich bekenne mich nicht als schuldig."
"Hjalmar Schacht." - "Ich bin in keiner Weise schuldig."

Peinlich genau auf korrektes Verfahren bedacht

Die Ankläger und die Verteidiger bestimmen den Verlauf des Verfahrens. Natürlich erwartet die Weltöffentlichkeit, dass dieser Prozess mit Schuldsprüchen endet. Doch im Vorfeld haben die Richter dem allzu selbstsicheren amerikanischen Chefankläger Jackson klargemacht, dass sie die Ankläger nicht augenzwinkernd begünstigen werden - sondern, dass sie peinlich genau darauf bedacht sein werden, ein korrektes und unabhängiges Verfahren zu garantieren. Das heißt: Die Ankläger müssen die persönliche Schuld jedes einzelnen Angeklagten nachweisen.

"Karl Dönitz." - "Nicht schuldig."
"Erich Raeder." – "Ich bekenne mich nicht schuldig."
"Baldur von Schirach." - "Ich bekenne mich im Sinne der Anklage als nicht schuldig."

24 Angeklagte sind für das Militärtribunal ausgewählt worden. Sie repräsentieren die Institutionen und Organisationen, die in den Augen der Alliierten für die schwersten Vergehen und schlimmsten Verbrechen der NS-Herrschaft verantwortlich waren. Auf der Nürnberger Anklagebank sitzen allerdings nur 21 Männer. Drei fehlen.
Der ehemalige Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, hat sich vor Prozessbeginn das Leben genommen, der Industrielle Gustav Krupp von Bohlen und Halbach ist senil und nicht mehr verhandlungsfähig, und gegen Martin Bormann wird in Abwesenheit verhandelt. Dass er schon bei Kriegsende umgekommen ist, wird erst Jahrzehnte später bekannt.

"Constantin von Neurath." - "Ich beantworte die Frage mit Nein."
"Hans Fritzsche." - "Dieser Anklage gegenüber nicht schuldig."

"Hoher Gerichtshof, es ist ein Privileg!"

Nachdem alle Angeklagten ihre Unschuld beteuert haben, erteilt Lord Lawrence, der Vorsitzende Richter, dem amerikanischen Hauptankläger Robert Jackson das Wort:
"Hoher Gerichtshof! Es ist ein Privileg, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden in der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum ersten Mal in der Geschichte abgehalten wird, zugleich aber wird eine große Verantwortung damit auferlegt. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie nicht zu beachten, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.
Dass vier große Nationen, erfüllt von ihrem Sieg und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft gemacht hat."
Der ehemalige amerikanische Justizminister und Bundesrichter Robert Jackson ist die zentrale Figur des Nürnberger Militärtribunals. Mit missionarischem Eifer warb er dafür, dass sich die Nazi-Größen in einem rechtsstaatlichen Prozess für ihre Taten verantworten müssen. Nun fühlt er sich so sehr als Hauptfigur des ganzen Tribunals, dass die Ankläger der anderen Alliierten darüber verärgert sind, wie sehr sie von ihm an den Rand gedrängt werden.
Angesichts seines Engagements steht allerdings außer Frage, dass er für die Anklagevertreter die einleitende, programmatische Rede hält. Wochenlang hat er sich intensiv auf diese Grundsatzrede vorbereitet, die mehrere hundert Journalisten aus aller Welt verfolgen.

Eine Grundsatzrede, die Eindruck macht

"Leider bedingt die Art der hier verhandelten Verbrechen, dass in Anklage und Urteil siegreiche Nationen über geschlagene Feinde zu Gericht sitzen", sagt Robert Jackson. "Die von diesen Männern verübten Angriffe, die auf die ganze Welt zielten, haben nur wenige wirklich Neutrale hinterlassen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess der Nachwelt einmal als Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge."
Der Prozess könnte besser nicht beginnen. Die Grundsatzrede des amerikanischen Chefanklägers hinterlässt einen außerordentlichen Eindruck. Jackson schafft es, dem Tribunal die Weihe einer höheren Aufgabe zu verleihen. Er entkräftet den Vorwurf der "Siegerjustiz", die ohne rechtsstaatliche Grundlage sei.
Nach über fünf Stunden fasst er die Anklage mit dem Satz zusammen: "Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation."
Eine amerikanische Zeitung kommentiert, Jacksons Rede sei "eine der bedeutendsten Eröffnungsreden, die je vor einem Gericht gehalten wurden".
Nachdem Jackson seine große Rede gehalten hat, marschiert am nächsten Tag der Stab der amerikanischen Anklagevertreter in den Gerichtssaal ein - mit riesigen Stößen von Dokumenten, die den Alliierten in die Hände gefallen sind. Einmal mehr erweckt das Verfahren an diesen ersten Tagen den Eindruck, als ob es eine amerikanische Veranstaltung sei.

Schnell beginnen die Probleme

Doch die Ankläger sind sich ihrer Sache allzu sicher. Schon nach kurzer Zeit gibt es Ärger. Die amerikanischen Ankläger legen dem Gericht eine Flut englischer Übersetzungen der deutschsprachigen Dokumente vor. Das Gericht soll sie als Beweisstücke entgegennehmen. Doch im Gerichtssaal wird in vier Sprachen verhandelt: Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch. Das haben die Amerikaner souverän ignoriert.
Das Gericht fällt einen für die Ankläger folgenschweren Beschluss: Für die Beweisaufnahme wird nur noch akzeptiert, was vollständig vorgelesen und dabei simultan übersetzt wird. Das bedeutet: Die Ankläger können den Gerichtssaal nicht mehr mit ihren Aktenbergen überschwemmen; sie müssen das Wichtigste mühsam vorlesen. Aber darauf sind sie nur unzureichend vorbereitet.
Dem sensationellen Anfang folgt ein ermüdender Marathon von Lesestunden. Erika Mann, die als amerikanische Berichterstatterin in Nürnberg weilt, kommentiert in einem Interview den Prozessverlauf mit verhältnismäßig freundlichen Worten:
"Ich muss sagen, dass der erste Eindruck natürlich ein ungeheuer starker war. Etwas späterhin kann man sagen, dass manche von uns, manche von den Zuschauern, Zuhörern, dass denen vielleicht zumute gewesen sein könnte, als ob der Prozess nicht aufregend, nicht dramatisch, nicht sensationell genug aufgezogen sei. Ich habe diesen Eindruck auch zunächst vielleicht gehabt. Aber ich muss heute sagen, dass nach längerem Zuschauen und Nachdenken, ich zu der Überzeugung gekommen bin, dass die Prozessführung, so wie sie ist, die richtige ist. Und die ungeheuer gewissenhafte und manchmal vielleicht beinahe pedantische Art, in der diese ungeheure Fülle von Tatsachenmaterial ruhig und undramatisch präsentiert ist, hat, glaube ich, ihre großen Vorzüge im Angesicht der Geschichte."

Wenige Zeugen, ermüdender Ablauf

Der Fortgang des Verfahrens leidet darunter, dass Jackson sich vorgenommen hat, die Angeklagten fast ausschließlich mit den schriftlichen Dokumenten zu überführen. Nur wenige Zeugen werden geladen. Den Anklägern der vier Mächte gelingt es kaum, ihre Beweisführungen zu koordinieren. So werden viele Dokumente mehrfach vorgetragen. Das ganze Verfahren wird langweilig und eintönig.
Die Reihen auf der Pressetribüne lichten sich. Die Verlesung der Dokumente wird so ermüdend, dass es zu grotesken Szenen im Gerichtssaal kommt. Den Angeklagten fallen die Augen zu. Englische und amerikanische Richter vermerken in ihren Aufzeichnungen immer wieder, wie zufrieden die Angeklagten in diesem Prozess schlummern. Auch die Sekretäre des Gerichts werden vom Schlaf überwältigt.
Einmal müssen sich die Richter deshalb sogar zur Beratung zurückziehen: Ein französischer Tribunalgehilfe hat nahe dem Richtertisch so laut geschnarcht, dass die Verhandlung gestört wurde. Abwechslung bringen die Vorführungen von Filmen aus der Nazi-Zeit, die auch der Beweisaufnahme dienen.
Eine deutsche Rundfunkreportage: "Im verdunkelten Gerichtssaal zog noch einmal ein Stück dieser finstersten Epoche der deutschen Geschichte über die Leinwand. Wir haben während der Filmvorführung mit unserem Mikrofon in den Gerichtssaal hineingehorcht, und auch ohne den Anblick der Bilder steigen aus den Geräuschen des abrollenden Tonfilms die Erinnerungen in uns auf. Denken Sie noch an die Tage, da man dem deutschen Volk eine Scheinblüte des nationalsozialistischen Systems in der deutschen Wochenschau vorgaukeln wollte."

Verhöre bringen Abwechslung

Abwechslung in den grauen Prozessalltag bringen schließlich auch die Verhöre der Angeklagten. Allerdings bekennt sich kaum einer von ihnen zu seinen Taten. Fast alle winden sich und schieben die Verantwortung von sich.
Selbstbewusst tritt vor allem Hermann Göring auf. Beispiel: Wie hätte er als Führer im Krieg gehandelt?
"Die Ermordung Hitlers hätte zu diesem Zeitpunkt, sagen wir, Januar `45, meine Nachfolge hervorgerufen", sagt Göring "Wenn der Gegner mir dieselbe Antwort gegeben hätte, bedingungslos zu kapitulieren, und zwar zu jenen furchtbaren Bedingungen, wie sie hier angedeutet waren, hätte ich unter allen Umständen weitergefochten."
Hermann Göring und Hitlers stellvertretender Führer Rudolf Heß während ihres Prozesses in Nürnberg am 8. Dezember 1945. 
Vor allem Hermann Göring (M.) trat als Angeklagter selbstbewusst auf - rechts neben ihm Rudolf Heß.© imago images / ITAR-TASS
Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson verhört Göring. Aber er macht keine gute Figur dabei. Göring versteht es geschickt, Jacksons Fragen zu parieren. Nach der Sternstunde zu Beginn des Prozesses verliert Jackson immer mehr an Ansehen. Seine Strategie, vor der Weltöffentlichkeit einen kurzen und eindrucksvollen Prozess über die Bühne zu bringen, geht nicht auf. Das Tribunal wird nicht, wie vorher erwartet, drei Monate tagen, sondern fast ein ganzes Jahr.
Jackson hat auch durchgesetzt, dass sich das ganze Verfahren hauptsächlich um die Verschwörung der Nazis zum Angriffskrieg dreht. Nürnberg soll den Beweis liefern, dass in der modernen Welt Verantwortliche für einen Krieg juristisch verfolgt werden können. Doch je länger der Prozess dauert, desto geringer wird die Hoffnung, dass Nürnberg das erhoffte Fanal für den Frieden wird. Vor allem aber rücken die großen Verbrechen der Nazis ein wenig in den Hintergrund.

"Der Aufschrei der Opfer wurde kaum hörbar"

Ein amerikanischer Historiker wird - rückblickend - zu dem Schluss kommen: "Der Aufschrei der Opfer, die von der Gestapo und in den Todeslagern der SS gequält worden waren, wurde in Nürnberg kaum hörbar."
Der für die Anklage unerfreuliche Verlauf des Tribunals bedeutet für die Angeklagten allerdings nicht, dass sie auf Freisprüche hoffen können. Trotz aller Schwierigkeiten der Ankläger beweisen die vorgelegten Dokumente derart eindrucksvoll die Schuld der Angeklagten, dass bei den meisten an einen Freispruch kaum zu denken ist.
Als nach über zehn Monaten am 30. September und 1. Oktober 1946 die Urteile verkündet werden, sitzen 21 ehemalige Größen des Naziregimes auf der Anklagebank. Drei werden freigesprochen, sieben erhalten langjährige Haftstrafen, zwölf werden zum Tode verurteilt.

Autor: Winfried Sträter
Es sprechen: Nicole Kleine, Gerd Grasse, Olaf Schuring, Manfred Wagner, Uwe Müller
Regie: Giuseppe Maio
Technik: Andreas Stoffels
Redaktion: Susanne Arlt

Programmhinweis: Am 27. Januar 2021 senden die Zeitfragen ein Feature über das Verhalten der Angeklagten während des Nürnberger Prozesses 1945/46.

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