Der neue Pflegebegriff

Schluss mit der Minutenpflege

Zwei Bewohnerinnen im Garten in einem Altenpflegeheim
Rosige Zeiten für Pflegebedürftige? Die neuen Pflegereformgesetze bringen Anpassungen an eine alternde Gesellschaft. © dpa/picture alliance/Frank Rumpenhorst
Von Volker Finthammer · 12.12.2016
Um ein neues Verständnis der Pflegebedürftigkeit geht es bei der nächsten Stufe der Pflegereform. Für die Begutachtung werden künftig nicht mehr Minuten gezählt, sondern es wird erfasst, was der pflegebedürftige Mensch selbst bewerkstelligen kann – und was nicht.
Anpassungen an eine alternde Gesellschaft. Auf diese schlichte Formel lassen sich die Pflegereformgesetze bringen, die in den vergangenen drei Jahren verabschiedet wurden. Nachdem mit den ersten Reformstufen höhere Pflegeleistungen vereinbart wurden geht es nun um ein neues Verständnis der Pflegebedürftigkeit. Damit werden ab 2017 nicht nur körperlich, sondern auch an Demenz erkrankte Menschen gleichberechtigten Zugang zu allen Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Künftig wird nicht mehr zwischen den Leistungen für körperlich oder geistig beeinträchtigten Menschen unterschieden.
"Der bisherige Pflegebegriff hat demenziell erkrankte Menschen nicht mit einbezogen, auch wenn die sehr pflegebedürftig gewesen sind, sehr viel Bedarf an Betreuung, an Begleitung gehabt haben, hat der alte Begriff nicht dazu geführt, dass sie überhaupt eingestuft wurden in eine Pflegestufe. Der neue Begriff führt eben auch dazu, dass die Unselbstständigkeiten, die ein Demenzkranker oder ein an Alzheimer erkrankter Mensch hat, auch tatsächlich in den Bewertungen von Pflegebedürftigkeit mit einfließen."
Sagt der Pflegeexperte des Sozialverbands VdK, Olaf Christen. Der neue Pflegebegriff sei dadurch wesentlich gerechter, weil er die möglichen Einschränkungen im Alter gleichwertig nebeneinander stelle. Zwangsläufig werden dadurch künftig mehr Menschen Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen können und mit dem neuen Jahr steigt auch erneut der Beitragssatz zur Pflegeversicherung auf dann 2,55 Prozent, nachdem die Beiträge bereits im Jahr 2015 angehoben wurden.

Hören Sie auch zwei weitere Beiträge im "Zeitfragen"-Magazin zur Pflegereform über "Mehr Geld für die häusliche Pflege" und "Pflegeheime - Die Verlierer der Reform?".

Die Pflegeversicherung ist auch die erste Sozialversicherung, die kinderlosen einen Aufschlag von 0,25 Prozent abverlangt. Aber dass eine alternde Gesellschaft mehr Geld für die Pflege ausgeben muss, steht für Gesundheitsminister Hermann Gröhe außer Frage. Viel wichtiger ist für ihn die praktische Ausgestaltung der Pflegereform.
"Es wird natürlich in den nächsten Jahren darauf ankommen, beispielsweise durch eine konsequente Umsetzung des Gedankens Reha vor Pflege auch Pflegebedürftigkeit möglichst gut im Verlauf beeinflussen zu können. Mit Pflegeunterstützung früher zu beginnen. 500.000 Menschen werden zusätzlich mittelfristig erste Beratungs- und Unterstützungsleistungen erhalten. Und insofern zielen unsere Maßnahmen ja auch darauf, schwere Pflegebedürftigkeit möglichst weit, wenn sie so wollen, nach hinten zu verschieben."

Kerngedanke: Mobilisierung statt Pflege

So Gröhe im Südwestrundfunk. Mobilisierung statt Pflege. Dieser Kerngedanke steht auch hinter der Ablösung der bisherigen drei Pflegestufen. Entscheidend bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit wird künftig sein, inwieweit der Betroffene in der Lage ist, seinen Alltag selbstständig zu meistern.
Für die Begutachtung werden künftig nicht mehr Minuten gezählt, sondern es wird erfasst, was der pflegebedürftige Mensch selbst bewerkstelligen kann und wobei er personelle Hilfe und Unterstützung im Alltag benötigt. Sechs Lebensbereiche werden dabei genauer unter die Lupe genommen.
"Drei dieser Lebensbereiche sind im Grunde genommen die alten Lebensbereiche Mobilität, Selbstversorgung und der Umgang mit der Krankheit oder mit Problemen. Drei Bereiche sind eher neue Bereiche die bisher von dem alten Pflegebedürftigkeitsbegriff eher gar nicht abgedeckt werden. Das sind Bereiche wie die kommunikativen Fähigkeiten, psychische Problemlagen oder auch soziale Kontakte."
Sagt VdK-Pflegeexperte Olaf Christen. Neu ist ab 2017 der Pflegegrad 1 bei nur leichten Einschränkungen. Dieser umfasst Hilfen, die früher ansetzen als bisher. Etwa eine frühe Pflegeberatung oder auch finanzielle Zuschüsse für die Verbesserung des Wohnumfelds.

Steigende Leistungen in der häuslichen Pflege

In der häuslichen Pflege steigen auch die Pflegegeldbeträge und die Pflegesachleistungen. In der stationären Pflege hingegen werden die Leistungen für Pflegebedürftige der bisherigen Pflegestufe 1 und 2 abgesenkt. Die Betroffenen müssen jedoch keine Nachteile fürchten. Sollte sich durch die Umstellung ein höherer Eigenanteil ergeben, zahlt die Pflegekasse die Differenz.
Zu einer deutlichen Entlastung der Angehörigen wird auch der einheitliche Eigenanteil bei der stationären Pflege im Heim führen. Bisher wurden mit jeder Höherstufung der Pflegebedürftigkeit auch höhere Pflegekosten fällig. Das entfällt künftig.
"Also auch ich will, wie so viele, möglichst lange in den eigenen vier Wänden bleiben können."
Sagt Gesundheitsminister Gröhe und betont damit die Vorzüge der Reform, die die berühmt berüchtigte Abschiebung ins Heim weitgehend vermeiden möchte. Aber da zeigt sich Olaf Christen vom Sozialverband VdK nur verhalten optimistisch.
"Wir müssen schauen inwieweit der neue Begriff auch tatsächlich zu einer neuen Leistungsgestaltung führt. Was wir brauchen in der individuellen passgenauen Versorgung gerade auch in der häuslichen Pflege. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff führt nicht automatisch dazu, dass es diese Möglichkeiten auch gibt. Der alte Begriff hat dazu geführt, dass die Praxis nur sehr eingeschränkt auch Leistungen angeboten hat, was bei den pflegebedürftigen Menschen einfach dazu geführt hat, dass bestimmte Angebote einfach nicht vorhanden waren.
Absehbar ist, dass auch der Personalbedarf in den Pflegerufen steigen wird, dafür sollen die Berufe durch eine – allerdings umstrittene Ausbildungsreform – attraktiver werden.
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